Die Nicht-Neutralität des Geldes und die Rolle der Zentralbanken

17.11.2022

Das Buch Zentralbankkapitalismus von Joscha Wullweber beleuchtet die Rolle der Zentralbanken. Deren Politik hat Auswirkungen auf Millionen von Menschen. Sollte Geldpolitik demokratisiert werden?

Zu meinen Studienzeiten war die Welt noch einfach. Zentralbanken sollten den Zins setzen (nicht: die Geldmenge) und damit die Inflation regeln. Ähnlich wie ein Thermostat einer Heizung war die Aufgabe letztlich automatisiert worden. Ist die Inflation zu hoch, soll der Zins steigen, um so die privaten Investitionen zu reduzieren. Die resultierende höhere Arbeitslosigkeit nimmt Lohndruck raus, die niedrigere Nachfrage sorgt für weniger Preisdruck. Ist die Inflation zu niedrig, soll der Zins entsprechend sinken.

Die letzten Jahrzehnte haben allerdings gezeigt, dass erstens diese Art der Geldpolitik (des Inflationsziels) nicht zuverlässig funktioniert und zweitens Zentralbanken noch ganz andere Sachen machen, die für ein Wirtschaftssystem wohl weitaus wichtiger sind als der Zins. Da wäre u.a. die Rolle als Bank des Staates, dessen Zahlungen sie tätigt (oder halt nicht, wie in Griechenland Anfang der 2010er Jahre), und die Rolle als "lender of last resort" für die Banken, was in der globalen Finanzkrise von 2008 relevant wurde. Die Volkswirtschaftslehre tut sich schwer damit, aber es lässt sich nicht leugnen, dass diese beiden Zentralbankfunktionen relevant sind und auch sein werden.

Sollten wir als Gesellschaft die Entscheidung, ob die Banken nationalisiert werden, per "bail-out" gerettet werden oder einfach abgewickelt werden den Zentralbanken überlassen? Sollte eine Zentralbank darüber entscheiden, ob eine demokratisch legitimierte Regierung wie die griechische Ausgaben tätigen kann oder nicht? Diese Fragen tauchen in den Lehrbüchern nicht oder nur am Rande auf. Wullweber (2021) schreibt auf der letzten Seite seines Buchs über die "Unabhängigkeit" der Zentralbanken:

... wurde auch damit legitimiert, dass gesellschaftliche Verteilungsfragen weiterhin von demokratisch gewählten Regierungen entschieden werden. Die Wirkung der Geldpolitik sollte hingegen weitestgehend neutral sein und letztendlich eine unpolitische Angelegenheit darstellen. Dieser Mythos konnte sich erstaunlich lange halten (van't Kloster/Fontan 2020). Nun, nach den Erfahrungen mit den beiden großen Krisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts und den wuchtigen Maßnahmen der Zentralbanken zur Restabilisierung des Wirtschafts- und Finanzsystems, ist deutlicher als je zuvor, dass Geldpolitik alles andere als unpolitisch ist. Geldpolitik - die Politik der Zentralbanken - sollte daher wieder stärker demokratisiert werden.

Es ist durchaus Konsens, dass eine Zentralbank den Zins setzt. Ob die geldpolitische Strategie erfolgreich ist, lässt sich immer diskutieren (wie z.B. vor einigen Wochen auf meinem Blog hier). Die Fragen, ob nationalen Regierungen der Zugang zum Geldsystem über die Zentralbank verweigert wird, ist allerdings von derartiger Wichtigkeit, dass wir dies nicht den Zentralbanken überlassen sollten. Auch die Frage, wie mit Banken verfahren wird, die von Insolvenz bedroht sind, ist eine politische und wird immer eine solche sein. "Too big to fail" beispielsweise ist nicht alternativlos. Das Konzept gab es vor der Finanzkrise von 2008 quasi nicht. Es gibt auch keinen Grund, weiterhin den Banken einen Persilschein auszustellen. Natürlich sind Banken keine normalen Wirtschaftsbetriebe und können nicht einfach alle abgewickelt werden, wenn das ganze Bankensystem wackelt. Die Regierung kann aber über eine Nationalisierung auf Zeit sicherstellen, dass sich Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und dass die Verantwortlichen entsprechend auch ihren Arbeitsplatz verlieren.

Weitaus relevanter wird in den nächsten Monaten wohl die Frage sein, ob und unter welchen Umständen eine nationale Regierung in der Eurozone den Zugang zum Geldsystem verlieren "darf". Höhere Zinsen und eine erwartete Rezession werden die fiskalischen Defizite der Staaten wieder in die Höhe treiben, so wie es aussieht. Damit könnte spätestens 2024 wieder der Druck entstehen, eine staatliche Kürzungspolitik durchzuführen, so wie es jetzt in Großbritannien geplant ist. Noch ist die Ausstiegsklausel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes aktiviert (bis Ende 2023). Es bliebe also noch Zeit für eine öffentliche Debatte, welche Entscheidungen wir der Demokratie überlassen und welche den Zentralbanken.