Was läuft schief in Argentinien?

29.02.2024

Der neue Präsident Milei will das Land umkrempeln, in welchem mehr als die Hälfte alle Menschen in Armut lebt und die Inflationsrate bei mehr als 200 Prozent liegt. Was ist schief gelaufen in Argentinien?

Argentinien, so heißt es, war einmal eines der reichsten Länder der Welt. Anfang des 20. Jahrhunderts kamen Millionen Gastarbeiter aus Italien ins Land, um im Sommer bei der Ernte zu helfen. Buenos Aires war die Hauptstadt Lateinamerikas, das Angebot an Kultur und Kunst enorm. In den letzten Jahrzehnten jedoch war Argentinien ein wirtschaftliches Problemkind. Die Meinungen darüber, was der Grund dafür ist, gehen weit auseinander. Sicherlich gibt es unterschiedliche Erklärungen, die sich überschneiden und auch komplementär zueinander sind. Eine Erklärung allerdings darf wohl nicht fehlen: Staatsanleihen der argentinischen Regierung in US-Dollar.

Wir erinnern uns: Die erste Lektion der Modern Money Theory ist die, dass der Staat sich über sein Geld mit Ressourcen versorgt. Die Bundesregierung entwirft einen Haushalt und kauft/mietet/bezahlt das, was sie an Ressourcen benötigt, sofern sich diese im Inland befinden: Arbeit, Kapital, Boden, Güter und Dienstleistungen, Energie und Rohstoffe. Dabei kann das Land nicht zahlungsunfähig werden, denn die Währung wird von der eigenen Zentralbank herausgegeben. Diese kann die Konten der Banken erhöhen, wenn die Regierung Geld ausgibt. Dagegen wird sich keine Bank sperren, denn mehr Geld ist immer besser als weniger Geld, völlig unabhängig von Fragen des Wechselkurses oder der Inflationsrate.

Problematisch wird es dann, wenn eine Regierung Staatsanleihen in Fremdwährung ausgibt. Dann muss sie Zinsen in dieser Währung zahlen und am Ende die Tilgung. Da die Zentralbank diese Währung nicht erzeugen kann, kann das problematisch werden. In Argentinien hatte die Regierung im Anschluss an eine Hyperinflation. Der IWF berichtete im Jahr 2000 (Übersetzungen mit DeepL):

„In den 1980er Jahren geriet Argentinien in ernste wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten. Die Hyperinflation in den Jahren 1989-90 führte schließlich zu dem notwendigen politischen Konsens für Reformen. Trotz besorgniserregender Bereiche haben die in den 1990er Jahren durchgeführten Strukturreformen Argentinien auf den Weg zu nachhaltigem Wachstum gebracht.“

Die argentinische Regierung koppelte ihren Peso an den US-Dollar, um so die Inflation in den Griff zu bekommen. Sie hob damit ihre eigene Währungssouveränität aus. Die Regierung in Argentinien verkaufte Staatsanleihen in US-Dollar, um einen Tausch von Pesos gegen USD zu gewährleisten bei einem festen Wechselkurs. Dies ist die Erbsünde Argentiniens, von der aus wir die Gegenwart besser verstehen können.

Die Realität verlief dann doch anders, als der IWF sich das 2000 vorstellte mit den „Strukturreformen“ und dem „nachhaltigen Wachstum“. Bereits Ende des nächsten Jahres kam es zu politischer Instabilität mit 5 Präsidenten innerhalb von 10 Tagen, wie der WDR berichtete:

„Argentinien, kurz vor Weihnachten 2001: Im zweitgrößten Land Südamerikas ziehen aufgebrachte Menschen durch die Straßen und protestieren gegen die Sparpolitik der Regierung. Sie trommeln gegen verbarrikadierte Türen von Banken und fordern die Herausgabe ihrer Ersparnisse. Es kommt zu Streiks und Straßenblockaden. Supermärkte werden geplündert. Bei Straßenschlachten gibt es Verletzte. Daraufhin erklärt Präsident Fernando de la Rúa den Ausnahmezustand: "Was zählt sind nicht die Menschen, es geht um Staat und Institutionen!"

Das ist zu viel: Tausende ziehen in der Hauptstadt Buenos Aires in Richtung Präsidentenpalast. Sie schlagen auf Kochtöpfe und Pfannen: "Alle sollen abhauen!" Am 20. Dezember 2001 flieht de la Rúa per Hubschrauber vom Dach des Präsidentenpalastes. Berittene Polizei schießt in die noch feiernde Menschenmenge. Es gibt mehr als 20 Tote, Hunderte von Verletzten. Die Proteste gehen weiter. Bis zum Jahreswechsel geben sich fünf Präsidenten die Klinke in die Hand.“

Danach halfen nur noch drastische Maßnahmen, wie der Deutschlandfunk berichtet:

„Roberto Lavagna wurde Anfang 2002 Wirtschaftsminister Argentiniens. Er beendete die Schuldenpolitik des Landes. Zusammen mit dem damaligen Staatspräsidenten Kirchner erklärte er das Land für zahlungsunfähig, strich 2003 einen Großteil der Auslandsschulden einfach aus den Büchern, ignorierte die ausländischen Anleger und hielt die Landeswährung Peso stark unterbewertet.“

Die folgende Episode - unterbrochen nur kurz durch die Globale Finanzkrise - gehört zu den wirtschaftlich glücklichen Zeiten, wie die Daten belegen. Die Abbildung unten zeigt hohes Wachstum bis in Jahr 2017, wobei die 2010er Jahre schon deutlich „stotterten”, wenn man sich das reale BIP ansieht (weiter unten).

Die große Frage ist: Was passierte 2017?

Der Weser-Kurier berichtet im März 2016:

Und somit ging das Problem mit den Staatsanleihen in ausländischer Währung wieder von vorne los, wie CAPITAL 2019 berichtete:

„Insgesamt 2,7 Mrd. Dollar spülte Argentiniens 100-Jahres-Anleihe in die klamme Staatskasse. Investoren müssen viel Risikobereitschaft mitbringen, der Kurs ist abgeschmiert

Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt vor Argentiniens 100-Jahres-Anleihe. Als die Regierung in Buenos Aires 2017 das Papier mit Laufzeit bis ins Jahr 2117 lancierte, stufte Capital es als "hochriskant" ein. Doch obwohl das Land in den Jahren zuvor zweimal bankrottgegangen war, konnte sich Argentinien mit dem Methusalem-Bond 2,7 Mrd. Dollar am Kapitalmarkt beschaffen. Zu verlockend war das Zinsversprechen: 7,125 Prozent pro Jahr!“

Die Regierung Macri, ein Konservativer, hatte die Idee, dass Milliarden von US-Dollar der Regierung helfen würden. Wobei genau? Anscheinend war der Plan, die „Geier-Fonds“ auszuzahlen. Diese Hedgefonds hatte zu billigen Preisen argentinische Staatsanleihen (auf USD) gekauft und hofften, dass das Land irgendwann die Schulden bedienen würde. So wurde das Geld, welches die Regierung Macri durch den Verkauf von Staatsanleihen erlöste, an die Geier-Fonds weitergereicht. Die waren zufrieden, und das Problem lag wieder bei Argentinien, die ihrerseits schon ein Jahr später ein Problem hatten mit der Rückzahlung. Die Zeit berichtet:

„Der IWF hatte Argentinien 2018 den größten Kredit seiner Geschichte über 57 Milliarden Dollar gewährt. Derzeit steht das südamerikanische Land beim IWF mit etwa 44 Milliarden US-Dollar in der Kreide. Einzelne Tranchen werden jeweils nach technischen Überprüfungen freigegeben, bei denen Argentinien nachweisen muss, die vom IWF geforderten Reformen umzusetzen.“

Und wenn der IWF kommt, dann kommen die „Strukturreformen“. Die Staatsausgaben werden gesenkt, um das Geld für die Rückzahlung von Schulden zu verwenden. Wie das genau gehen soll, hat bisher niemand so richtig verstanden, denn wenn die argentinische Regierung weniger Pesos ausgibt, dann kann sie ja nicht einfach diese Pesos in USD umtauschen zu einem stabilen Wechselkurs. Pesos in USD umtauschen kann sie jederzeit, aber wie gesagt, dass bringt den Wechselkurs zum Einsturz. Wenig Sinn macht es, die Staatsausgaben parallel zusammenzustreichen und damit Massenarbeitslosigkeit, Armut und einen Einbruch der Wirtschaft zu erzeugen, so wie das die Regierung Kirchner auf Rat des IWF Ende der 2010er Jahre machte.

Die Kürzungspolitik seit 2017 hat Argentiniens Wirtschaft in die Krise geführt. Solange die Schulden in USD vorhanden sind, wird wohl kein Weg aus der Krise führen, der nicht die Einnahmen des Staates in USD deutlich erhöht. Den Bürgerinnen und Bürgern in Argentinien kann der Staat allerdings nicht mehr in die Tasche greifen, zumindest nicht der Hälfte, die in Armut lebt. Das hat auch Milei, der jetzige libertäre Präsident des Landes, verstanden. Er will die Exportsteuern auf Soja erhöhen, wie Reuters berichtet.

Wichtiger wäre allerdings wohl eine Erhöhung der Staatsausgaben in Pesos, um den sozialen Frieden wiederherzustellen. Ein Land mit einer Armutsquote von 50 Prozent und einer Inflationsrate von über 200 Prozent kann nicht durch Kürzungspolitik reformiert werden, wenn genau diese Kürzungspolitik den Zustand des Landes herbeigeführt hat. Ohne einen Aufschub der Zahlungen in USD und eine Ausweitung der Staatsausgaben wird es nicht gehen.

Natürlich hat Argentinien sehr viele weitere Probleme, z.B. die Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen, die Macht der Exporteure und angebotsseitige Verwerfungen. Diese lassen sich allerdings nur angehen, wenn die makroökonomische Lage stabil ist. Es ähnelt einem Kreuzfahrtschiff, welches in rauer See ins Schlingern geraten ist. Erstmal muss das Schiff stabilisiert werden, danach kann aufgeräumt werden. Die kleinen und großen Unfälle an Bord sind Symptome des makroökonomischen Sturms und können nicht unabhängig davon behoben werden.

Allen Bürgerinnen und Bürgern Argentiniens können wir nur wünschen, dass sich die Kreditgeber dazu bereit erklären, ihren Teil zu stabilen makroökonomischen Bedingungen beizutragen. Dann hätte es die nationale Regierung wieder in der Hand, das Puzzle der eigenen Ressourcen wieder zusammenzufügen, indem die richtigen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen erfolgen, die sowohl privaten wie auch öffentlichen Unternehmen ein nachhaltiges Wirtschaften ermöglichen.