Warum bricht die Kreditnachfrage der Eurozone ein?
Die Kreditnachfrage in der Eurozone ist 2023 eingebrochen. Was ist der Grund: sinkende Staatsausgaben, steigende Zinsen oder beides?
Wie die Abbildung oben zeigt, ist die Kreditnachfrage in der Eurozone im Jahr 2023 fast auf null gesunken und damit in etwa so hoch wie während der Finanzkrise von 2008/09 oder der darauf folgenden Eurokrise (2010-2014). Was ist der Grund dafür? Geld- und Fiskalpolitik sind normalerweise die Hauptursachen, wenn es um die Kreditnachfrage geht, und tatsächlich waren beide auf Bremsen eingestellt: Staatsausgaben wurden gekürzt und die Zinsen der EZB erhöht. Allerdings führen höhere Zinsen auch zu höherer Nachfrage und nicht alle Kredite sind zinssensitiv. Während beispielsweise Immobilienpreise bei gegebenen Staatsausgaben vom Zins abhängen, ist das bei Ausrüstungsinvestitionen eher nicht der Fall. Unternehmen investieren, wenn die Nachfrage hoch ist. Zahlen sie mehr Zinsen, erhöhen sie ihre Preise, was die Konkurrenz ja auch machen wird.
Im Euro Area Bank Lending Survey Q3/2023 schreibt die EZB (übersetzt mit DeepL, Fett durch mich):
Die Nettokreditnachfrage der Unternehmen ging im dritten Quartal 2023 weiter deutlich zurück (Nettoprozentsatz von -36%, nach -42% im zweiten Quartal 2023; siehe Übersichtstabelle), wobei der Nettoprozentsatz der Banken, die einen Rückgang meldeten, nur geringfügig über dem Allzeittief des Vorquartals lag. Wie in den letzten Quartalen war der Rückgang deutlich stärker als von den Banken erwartet. Das allgemeine Zinsniveau war nach wie vor die Hauptursache für den Rückgang der Kreditnachfrage. Wie in den vorangegangenen Quartalen wirkten sich auch die Anlageinvestitionen stark dämpfend auf die Kreditnachfrage aus, was sich in einem starken Nettorückgang der Nachfrage nach langfristigen Krediten widerspiegelte. Fusionen und Übernahmen (M&A), die im sonstigen Finanzierungsbedarf enthalten sind, dämpften ebenfalls die Kreditnachfrage, während die Nachfrage nach Vorräten und Betriebskapital eine neutrale Wirkung hatte. Für das vierte Quartal 2023 erwarten die Banken einen geringeren Rückgang der Nettonachfrage nach Krediten an Unternehmen als im dritten Quartal.
Die EZB sieht das allgemeine Zinsniveau als Hauptursache für den Rückgang der Kreditnachfrage, erkennt aber auch, dass die Anlageinvestitionen gesunken sind, was die Kreditnachfrage sinkt. Diese Entwicklung hat etwas mit der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage zu tun. Wenn der Staat weniger Geld ausgibt, sinkt die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. In der Abbildung unten sehen wir die Größenordnungen, so wie sie von der EZB geschätzt werden. Der grüne Balken ist auf den Rückgang der Nachfrage zurückzuführen, der gelbe Balken auf den Anstieg der Zinsen. Der grüne Balken ist dabei ganz rechts in Italien größer als der gelbe Balken, in Deutschland ist es andersherum. Das könnte daran liegen, dass die italienische Regierung die Staatsausgaben stärker kürzt als die deutsche.
In der folgenden Abbildung sehen wir die Staatsausgaben in Prozent des BIP für Deutschland (rot), Frankreich (lila), Spanien (grün) und Italien (blau). Die Rückgänge der Staatsausgaben von 2022 auf 2023 lagen bei -1,3 Prozentpunkte (DE), -0,6 (ES), -1,8 (FR) und -3,0 (IT). Es überrascht nicht, dass in Italien Ende 2023 die Kreditnachfrage am stärksten eingebrochen ist.
Als letztes geht es um die Frage, ob die Höhe der Zinsen und ihre Auswirkung auf die privaten Investitionen unabhängig von der Fiskalpolitik ist. Wenn dem so wäre, dann könnten wir die EZB zustimmen und die hohen Zinsen der EZB als Hauptursache für die schwache Kreditnachfrage ausmachen. Ein Blick in die USA zeigt allerdings, dass auch bei steigenden Zinsen die Kreditnachfrage stark sein kann, wenn nämlich die Staatsausgaben steigen und nicht sinken. Die folgende Abbildung zeigt Staatsausgaben und private Investitionen in den USA. Es ist sehr deutlich zu erkennen, dass die Staatsausgaben (blau) seit 2022 ansteigen und die privaten Investitionen flach verlaufen (rot). Eine Zinserhöhung muss also nicht zu einer Reduktion der privaten Investitionen führen, so wie das viele Ökonomen annehmen. Es kommt halt drauf an, was die Fiskalpolitik macht. Ist diese expansiv, wie in den USA, dann passiert wenig, ist sie konktraktiv, so wie in der Eurozone, dann kann es zu einem Einbruch der privaten Investitionen kommen. Schuld ist dann aber wohl eher das Senken der Staatsausgaben, denn ohne würde das Ergebnis ein anderes sein.
Die sinkende Kreditnachfrage wird von der EZB durch zwei Komponenten erklärt: sinkende Gesamtnachfrage nach Gütern und Dienstleistungen, dadurch weniger private Investitionen und daher weniger Kreditnachfrage und steigende Zinsen. Wenn aber steigende Zinsen allein kein Grund sind für geringere Investitionen, dann gibt es nur noch einen wesentlichen Grund für die europäische Investitionsschwäche: zu niedrige Staatsausgaben.