Viele Wirtschaftswissenschaftler sind eigentlich eine Stammesgruppe

19.01.2024

Das Zitat aus dem Titel stammt von Christine Lagarde, die während des World Economic Forums in Davos interviewt wurde. Ihre Kritik richtet sich vor allem gegen die Kollegen, die mit ihren Modellen spielen und jegliche Kritik daran ignorieren. Worum geht es dabei?

In einem Artikel bei Euractiv wurde zuerst darüber berichtet, dass die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) die Ökonomen kritisiert hat. In dem Artikel heißt es zum Auftritt von Lagarde in der Schweiz (übersetzt mit DeepL):

Auf einer Veranstaltung mit dem Titel "How to Trust Economics" (Wie man der Wirtschaft vertrauen kann) auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sagte die EZB-Chefin außerdem, dass Ökonomen eine "Stammesclique" bilden, deren Modelle die Möglichkeit "exogener Schocks" wie Pandemien, durch den Klimawandel bedingte Wetterereignisse und plötzliche Versorgungsengpässe - die alle die europäische Wirtschaft in den letzten Jahren stark beeinträchtigt haben - weitgehend ausschließen.

Lagarde, eine ausgebildete Juristin und frühere Chefin des Internationalen Währungsfonds, wies auch darauf hin, dass sie bei ihrem Amtsantritt als EZB-Präsidentin im Jahr 2019 den EZB-Rat und die Analysten ausdrücklich davor gewarnt habe, "sich vor Modellen zu hüten".

"Viele Ökonomen sind eigentlich eine Stammesclique", sagte sie. "Sie gehören zu den Wissenschaftlern mit dem größten Stammesgedanken, den man sich vorstellen kann. Sie zitieren sich gegenseitig. Sie gehen nicht über diese Welt hinaus. Sie fühlen sich in dieser Welt wohl. Und vielleicht haben Modelle etwas damit zu tun."

Diese Worte mögen für Außenstehende hart klingen, enthalten aber sehr viel Wahrheit. Makroökonomen, die der neu-keynesianischen Schule angehören, sind sehr gut darin, alle anderen Kollegen auszublenden. So lässt sich natürlich kein wissenschaftlicher Fortschritt erreichen, denn diese´r ist die Folge eines wissenschaftliches Diskurses mit Erkenntnisgewinne. Wer wie die Neukeynesianer meint, jegliche Kritik müsse in Form von Veränderungen ihres eigenen mathematischen Modells geäußert werden, ist kein Wissenschaftler mehr. Die Debatte um die Modelle ist dabei uralt und eigentlich sollte klar sein, dass Modelle Abstraktionen sind und daher zwangsläufig Dinge ausblenden – auch Dinge, die vielleicht einmal wichtig sind, wie exogene Energiepreisschocks, welche die Inflationsrate erhöhen.

In vielen Wissenschaften sorgen Experimente für Erkenntnisgewinn und dann auch dafür, dass Ideen bzw. Theorien aussortiert werden, weil sie der empirischen Realität widersprechen. Phlogiston z.B. sind kleine unsichtbare Kügelchen, die auf der Erde liegen, und alles nach unten drücken, weshalb wir nicht wegfliegen. Nette Idee, aber nicht zu halten, weil man diese kleinen unsichtbaren Kügelchen empirisch nicht nachweisen kann. In den Sozialwissenschaften, und dazu gehört die Ökonomik, ist es komplizierter. Vielfach ist schwer zu bestimmen, ob beispielsweise eine erhöhte Inflationsrate die Folge ist von zu hoher Nachfrage oder steigenden Energiepreisen (inzwischen sollte die Frage beantwortet sein). Empirisch gesehen gibt es schon Ergebnisse, die wir messen können, nur ist halt Korrelation nicht immer Kausalität. Die steigende durchschnittliche Körperlänge der Menschen korreliert z.B. mit der Klimaerwärmung der letzten 70 Jahre, ist aber wohl nicht deren Ursache. (Die Ursache ist eher die steigende Anzahl der Menschen und unser Lebensstil.)

Es ist daher wichtig in der Wissenschaft, dass kritisch nachgefragt wird, dass auch kritisiert wird und immer gewährleistet ist, dass ein Dialog, ein Streit stattfindet zwischen unterschiedlichen Positionen. Dies ist aber innerhalb der akademischen Volkswirtschaftslehre seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall. Nicht nur im Bereich der Makroökonomik sind so gut wie alle Professoren der Meinung, dass Märkte die Grundlage unseres Wohlstands sind während der Staat kleingehalten werden muss, weil er unproduktiv und korrupt ist. Diese Einschätzung ist aber selbst keine Wahrheit, die sich einer wissenschaftlichen Analyse entzieht. Und siehe da: es gibt sehr gute Gründe dafür, dass auch der Staat in der Entwicklung einer Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Dies ist eine empirische Beobachtung, und kein normatives Wertargument.

Es wäre also für unsere Gesellschaft wünschbar, dass es einen wissenschaftlichen Diskurs in der Ökonomik gibt, der zu Erkenntnisgewinn führt. Dabei müssen dann aber auch alle guten Argumente erlaubt werden. Sollte es keinen Diskurs geben, werden die Institutionen ihre Effektivität verlieren und wir werden die wirtschaftspolitischen Ziele Vollbeschäftigung und Preisstabilität nur zufällig erreichen. Das wiederum würde dazu führen, dass sich die Arbeitslosen und die Verlierer der Umverteilung als Folge von Inflation politisch gegen das Establishment wenden.

Christine Lagarde gebührt Dank, denn sie hat mir ihren Kommentaren eine Debatte angestoßen über den Umgang von Ökonomen mit Modellen und mit Kritik an diesen Modellen. Eine Kritik an neukeynesianischen Modellen hatte ich mit Asker Voldsgaard (2020) veröffentlicht. Eine breitere Kritik an der Ökonomik, wie sie heute meist betrieben wird, hatte ich 2018 mit Fritz Helmedag in einem Sammelband als Kapitel veröffentlicht. Es wäre sicherlich sinnvoll, wenn sich die Zentralbanker der neukeynesianischen Schule mit der berechtigten Kritik an ihren Modellen auseinandersetzen würden und gleichzeitig die Zentralbanken sich auch öffnen würden für andere Denkschulen wie die Modern Money Theory.