Olivier Blanchard über die Reform der EU-Fiskalregeln
In einem Beitrag suchen Olivier Blanchard und Jeromin Zettelmeyer einen Kompromiss zwischen den Reformvorschlägen zu den Fiskalregeln, welche aus Berlin und Brüssel stammen. Dabei werden fundamentale Fragen aufgeworfen, die beantwortet werden sollten.
Die Fiskalregeln der EU sollen reformiert werden, sowohl Brüssel wie auch Berlin haben Vorschläge vorgebracht, die in dem Artikel von Olivier Blanchard und Jeromin Zettelmeyer (BZ) verlinkt sind. Ich hatte bereits im Februar einen Beitrag dazu verfasst, warum die Ausrichtung der EU und der Eurozone an Defizitzielen meiner Meinung nach nicht sinnvoll ist. Beim Lesen des Artikels der Kollegen wird deutlich, dass viele wichtige Fragen aufgeworfen werden, die aber dann nicht beantwortet werden. Genau an diesen Stellen müsste Bewegung in die Sache kommen, um eine sinnvolle Reform der Regeln der Eurozone angehen zu können. Anhand einiger Absätze der Autoren mache ich die wichtigen Stellen deutlich (eigene Übersetzung mit Nutzung von DeepL). Gleich im zweiten Absatz unterstreichen BZ die Dringlichkeit:
Für den neuen Vorschlag steht sehr viel auf dem Spiel. Wenn die Kommission die Kritik der EU-Länder ignoriert, wird die Reform nicht vor den Europawahlen 2024 verabschiedet werden. Dies würde die finanzpolitische Steuerung der EU in einem längeren Schwebezustand belassen. Wenn die Kommission den EU-Ländern jedoch zu sehr entgegenkommt, wird die Reform die intellektuellen Stärken des ursprünglichen Plans verlieren und sich möglicherweise in etwas verwandeln, das dem derzeitigen System ähnelt - ein Frankenstein'sches Monster aus sich überschneidenden Regeln und Verfahren.
Ich bin wie die Autoren der Meinung, dass die jetzigen Regeln und Verfahren zu undurchsichtig und kompliziert sind. Allerdings waren die Regeln seit 2020 ausgesetzt. Nach Aktivierung der allgemeinen Ausstiegsklausel im April 2020 gelten die Defizitgrenzen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nicht mehr, auch der Fiskalpakt ist pausiert. Ein wesentlicher Ausgangspunkt für eine Reform der EU-Fiskalregeln sollte daher sein, was wir in den letzten Jahren gelernt haben. Ohne Regeln lief die Wirtschaft der Eurozone/EU sehr gut – trotz Pandemie und Ukraine-Krieg ist das Bruttoinlandsprodukt schon über dem von 2019 (siehe unten). Im Vergleich zu der Situation nach Finanzkrise von 2008/09 ist das deutlich besser, denn damals dauert es bis etwa 8 Jahre nach der Krise, bis das Vorkrisen-BIP erreicht war.
Auch die Arbeitslosenquote in der Eurozone sieht sehr gut aus. So niedrig wie in den letzten Jahren war die Arbeitslosigkeit noch nie! Warum? In der Krise konnten die nationalen Regierungen ihre Staatsausgaben erhöhen ohne Angst haben zu müssen, dass resultierende staatliche Defizite wieder bestraft werden würden. Mehr Staatsausgaben heißt gleichzeitig mehr Einnahmen bei den nicht-staatlichen Akteuren, also Haushalten und Unternehmen in In- und Ausland. Wenn Firmen mehr absetzen können, dann werden sie mehr produzieren. Sie stellen also Arbeitskräfte ein. Das Resultat von steigenden Staatsausgaben sind dann mehr Beschäftigung und ein höheres BIP. Damit hängt allerdings dann auch die Problematik zusammen, dass wir zu viel CO2 ausstoßen und zu viele Ressourcen verbrauchen. Dieses Problem gehört allerdings nicht in die Fiskalregeln, sondern steht über allem anderen. Der European Green Deal soll Ressourcen- und Energieverbrauch senken, zusammen mit nationalen Maßnahmen. (Momentan funktioniert das nicht besonders gut, aber das werde ich in einem späteren Artikel genauer analysieren.)
Wir können also festhalten, dass die temporäre Rücknahme der Fiskalregeln dazu geführt hat, dass die Wirtschaft stabilisiert wurde. (Die erhöhte Inflation ist nicht nicht die Folge gestiegener Staatsausgaben, sondern Folge gestiegener Energiepreise und höherer Gewinnmargen, wie ich bereits hier diskutiert habe.) Das sind gute Nachrichten!
Die große Frage sollte doch jetzt eigentlich sein, ob wir die Fiskalregeln nicht gänzlich ausschalten. Die Idee des Stabilitäts- und Wachsumspaktes war ja gerade die Erzeugung von Stabilität und Wachstum. Beides hatten wir aber nur, weil wir die Fiskalregeln ausgeschaltet hatten. Da liegt es doch nahe, diese Regeln permanent auszuschalten. Auf diesen Gedanken kommen jedoch weder Brüssel noch Berlin, und auch BZ verlassen nicht die ausgetretenen Pfade. Weiter heißt es bei BZ:
Zweitens: Die größte Schwäche des derzeitigen Systems ist die mangelhafte Umsetzung. Zum Teil spiegelt dies die unvermeidlichen Spannungen zwischen der EU, vertreten durch die Europäische Kommission, und den Regierungen wider, die die Risiken ungebremster Defizite für andere Mitgliedstaaten nicht erkennen. Ein Teil des Widerwillens, sich an die Regeln zu halten, spiegelt aber auch deren schlechte Gestaltung wider. Die EU-Länder sind viel eher bereit, ihre Haushaltspolitik zu straffen [fiscal tightening], wenn sie nicht von einer scheinbar willkürlichen Regel diktiert wird, sondern durch ihre spezifischen wirtschaftlichen Umstände gerechtfertigt werden kann. Genau darauf zielt der DSA-basierte Ansatz ab.
Das Problem ist hier, dass der IWF gerade gezeigt hat, dass eine Straffung der Haushaltspolitik – gemeint sind Kürzungen der Staatsausgaben – im Durchschnitt eben nicht zu einer Reduktion der Staatsverschuldung führt. Auch dies hatte ich jüngst auf meinem Blog diskutiert. Die große Frage ist, warum überhaupt die Höhe der Staatsverschuldung geteilt durch das BIP ein fundamentaler Indikator sein soll, an dem die Wirtschaftspolitik ausgerichtet wird. BZ schreiben:
Netto-Ausgabenobergrenzen verhindern weder Erhöhungen der Bruttoausgaben (solange sie durch neue Steuern ausgeglichen werden) noch Änderungen in der Zusammensetzung der Ausgaben. Sie sind daher mit jeder Änderung der Politik vereinbar, die eine neue Regierung durchführen möchte, mit einer einzigen Ausnahme: der Anhebung der Nettoobergrenze. Aber dafür gibt es einen guten Grund, den gleichen Grund, warum es überhaupt Regeln auf EU-Ebene gibt: Eine Finanzpolitik, die die Tragfähigkeit der Schulden gefährdet, ist nicht nur eine Angelegenheit von nationalem Interesse, sondern eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse.
Was genau ist denn mit „Tragfähigkeit der Schulden” gemeint? Wie hoch ist denn die maximale Staatsverschuldung? Oder die optimale Staatsverschuldung? Darauf findet sich in der ganzen Debatte keine Antwort. Wir sehen, dass die Staatsverschuldung in den Ländern der Eurozone seit 2020 stark zugenommen hat. Problematisch war dies jedoch nicht. Die EZB sichert mit Ankaufprogrammen die Preise der Staatsanleihen, wodurch eine Zahlungsunfähigkeit der nationalen Regierungen vermieden wird. Das gilt für Griechenland mit einer Staatsverschuldung von mehr als 210 Prozent des BIP in 2020 genauso wie für Deutschland oder Italien und Spanien. Eine „Tragfähigkeit der Schulden” gibt es anscheinend gar nicht.
Wir stehen in der Eurozone vor großen Herausforderungen. Weder Preisstabilität noch Vollbeschäftigung sind erreicht, von einer nachhaltigen Wirtschaft sind wir weit entfernt. Es wäre meiner Meinung nach ein wichtiger Schritt nach vor, reale wirtschaftspolitische Größen wie die Arbeitslosenquote oder den CO2-Ausstoß direkt in den wirtschaftspolitischen Regeln zu verankern und die Defizit- und Schuldengrenzen fallenzulassen. Die alten Regeln sind unterkomplex und dysfunktional. Nach der alten Sicht ist das einzige was zählt die Reduktion von Staatsausgaben in Krisenzeiten (wenn die Steuereinnahmen einbrechen). In guten Zeiten bekommt kein Land Probleme mit dem Defizit. In Krisenzeiten aber schalten wir die Regeln aus, weil die Ergebnisse verheerend wären: Massenarbeitslosigkeit und Depression.
Insofern würde ich dafür stimmen, die Regeln so zu belassen wie sie sind. Eine Reform würde keine wirklichen Verbesserungen bringen. Die EU-Kommission hätte, wenn Brüssel sich durchsetzt, deutlich mehr Macht. Da aber nationale Regierungen demokratischer sind als die Kommission ist das nicht ganz unproblematisch. Wenn Berlin sich durchsetzt, bleibt von der Reform nicht viel übrig. Die jetzigen Regeln sind zwar dysfunktional, aber mit der Ausstiegsklausel lassen sie sich auch in der nächsten Krise ausschalten. Bei kleineren Verstößen drohen keine großen Probleme. 2019 hatten gleich zehn Länder „exzessive“ Defizite, aber nur gegen Rumänien wurde ein Verfahren eröffnet (u.a. hatte die Regierung die Renten um 40 Prozent erhöht). Sollte die Eurozone einer Rezession entkommen, sind also keine großen staatlichen Defizite zu befürchten. Kommt doch eine Rezession, werden die fiskalischen Regeln wohl sicher wieder ausgesetzt. Solange der Krieg in der Ukraine läuft, gibt es sicherlich kein politisches Interesse, die nationalen Regierungen von Brüssel aus unter Druck zu setzen. Bessere Regeln sind wünschbar, aber die aktuelle politische Situation lassen sie wohl nicht zu.