Medikamentenmangel – Versagen der Handelspolitik?

27.01.2023

Seit mehr als einem Monat ist in Berlin kein Penicillin mehr zu bekommen. Hustensaft für Kinder war und ist ebenfalls nicht mehr zu kriegen. Warum führt uns die Globalisierung in eine Mangelwirtschaft wie in der DDR?

Die tz berichtete jüngst über den Mangel an Medikamenten in Berlin:

„Es fehlen im Vergleich zum Herbst sogar noch zehn bis 20 Prozent mehr Medikamente. Insgesamt sind es immer noch weit über 1000", sagt Thomas Preis, Chef vom Apothekerverband Nordrhein, gegenüber der Bild Zeitung. Darüber hinaus seien gegenwärtig circa die Hälfte der ärztlichen Verordnungen von Lieferengpässen betroffen, meint Preis.“

Wir haben also einen Mangel an Medikamenten. Dies erstaunt, denn normalerweise können wir mit dem Rezept vom Arzt zur Apotheke gehen und uns das Medikament geben lassen. Nun ist es so, dass die Apotheke auch mal sagt, dass sie das Medikament nicht vorrätig hat, seit einem Monat nichts mehr davon hatte und auch nicht sagen kann, wann es wieder verfügbar ist. Gesundheit allerdings ist ein Menschenrecht und der Staat muss dafür sorgen, dass alles dafür getan wird, um dieses Recht auch umzusetzen. Politisch verantwortlich ist die Bundesregierung, welche die Gesetze macht und die Fäden in der Hand hält bzw. sie nicht in die Hand nimmt, weil sie die Versorgung mit Medikamenten „dem Markt” überlässt. Dies entlässt sie allerdings nicht aus der Verantwortung.

Was ist da los?

Die heutige Mangelwirtschaft erinnert die BerlinerInnen an die DDR. Dort waren auch Dinge häufig nicht verfügbar. Der Grund war, dass die Produktionskapazitäten nicht ausreichten für mehr Güter und Dienstleistungen und das Ausland nicht viel geliefert hatte, u.a. weil die DDR nur sehr wenig Devisenvorräte (Fremdwährungsvorräte) hatte. Die heutige BRD hat allerdings mit dem Euro ein Zahlungsmittel, welches weltweit gerne genommen wird. Wieso können wir nicht einfach die Medikamente kaufen, die wir brauchen? Warum liefert „der Markt“ nicht?

Einen Anhaltspunkt kann der Artikel „Todbringende Medikamente” liefern, der Anfang Januar in der FR erschien. Hier heißt es:

„Das Problem heißt Globalisierung, Konkurrenz und Ausbeutung. Das Problem heißt Profitgier. Das Problem heißt Dumpingpreise. Das Problem heißt Produktion in "Billiglohnländern", besonders in Asien. Indien und China haben unsere Arzneimittelversorgung inzwischen fast vollständig in der Hand. In Europa findet keine nennenswerte Arzneimittelproduktion mehr statt. In Deutschland wird kein einziges Antibiotikum mehr hergestellt, seit Sandoz im Jahr 2015 seine letzte Fabrik in Frankfurt-Höchst geschlossen hat. Auf unseren Medikamentenschachteln steht trotzdem "Made in Germany". In der Packungsbeilage muss nur das Land genannt werden, in dem der letzte Produktionsschritt vollzogen wurde. Im Fall von Arzneimitteln ist das die Kontrolle und Verpackung. "Made in Germany" ist also nichts weiter als eine Irreführung. Ein Witz.“

Die Globalisierung hat also dazu geführt, dass die Unternehmen keine Arzneimittelproduktion mehr in Deutschland haben. Der Grund liegt auf der Hand: Anderswo locken höhere Gewinne. Diese fallen an, weil die Kosten geringer sind: die Arbeitskräfte werden mit Billiglöhnen abgespeist, Regulierung ist schwächer als in der EU, die Transportkosten mit Containern sind minimal. Diese Art der unregulierten Globalisierung hat dazu geführt, dass Standortentscheidungen keine politischen Entscheidungen mehr waren, sondern unternehmerische. Und die Unternehmen, soviel ist seit Adam Smith klar, gehen halt dahin, wo es am billigsten ist – zumindest bei Arzneimitteln, da die Transportkosten gering sind.

Schöne Theorie, häßliche Realität

Allerdings hat dieser Prozess nichts mit den Freihandelsgewinnen zu tun, die theoretisch zu erzielen sind. Laut David Ricardo, dem Begründer der Freihandelstheorie, führt die Ausnutzung von Unterschieden in der Produktivität dazu, dass durch eine Spezialisierung der Produktion mit der gleichen Anzahl an Arbeitskräften mehr Konsumgüter erzeugt werden können. Dabei kommt es auf den relativen Kostenvorteil an. Also handelt Deutschland, dessen Produktivität in wohl den allermeisten Sektoren über der von Indien liegt, trotzdem mit Indien. In Indien wird dann halt das hergestellt, was von der Produktivität her möglichst nah an Deutschland liegt.

Allerdings sind Unterschiede in den Löhnen und in der Regulierung, welches die Haupttreiber dieser Standortentscheidungen sind, keine Produktivitätsunterschiede. Neben den Unterschieden in der Produktivität kennt der Freihandel auch noch Unterschiede in der Faktorausstattung (Heckscher-Ohlin Modell) und in der Nachfrage nach Varianten (New Trade Theory), ggf. unter Herbeiziehung von Transportkosten (New Economic Geography). Allerdings trifft dies nicht den Kern der Globalisierung. Deren Gedanke war, dass das Gemeinwohl keine Berücksichtigung mehr findet. Stattdessen sollten alle Individuen frei sein, alles mögliche weltweit zu handeln und zu transferieren. Es ist diese Variante einer entpolitisierten, extrem individualisierten Globalisierung, die uns jetzt auf die Füße fällt.

In der DDR waren Güter nicht verfügbar, weil sie nicht hergestellt werden konnten. In der BRD heute sind sie nicht verfügbar, weil wir zugelassen haben, dass sie im Ausland produziert werden und nur im Ausland. Politisch verantwortlich ist der Gesundheitsminister. Er kann, wenn er will, jederzeit ein Programm vorlegen, wie Produktionskapazitäten in Deutschland aufgebaut werden können. Durch die wiederhergestellt Souveränität wären wir dann als Gesellschaft wieder in der Lage, uns selbst mit den notwendigsten Medikamenten zu versorgen. Aktuell sind wir es nicht – die Coronapandemie hat schon 2020 dazu geführt, dass China die im Inland hergestellten Medikamente lieber selbst verbrauchen wollte.

Der Wohlstand der Nationen

Da nützt es also auch nichts, dass Deutschland „reich“ ist. Hohe Geldvermögen sind nett, aber erst das Angebot an Konsumgütern führt dazu, dass der Wohlstand der Nationen steigt. Genau dies ist übrigens auch die Erkenntnis von Adam Smith in seinem Buch von 1776, welches die politische Ökonomie begründet hat. Es ist Zeit, sich wieder der Realität zuzuwenden. Die Politik sollte das Gemeinwohl im Blick haben und nicht die Gewinne der Unternehmen. Schon Adam Smith hatte erkannt, dass sich das Eigeninteresse und das Gemeinwohl nicht immer überlagern. Wir werden für das 21. Jahrhundert eine andere Politik brauchen, die aktiv nach Lösungen für die Probleme unserer Zeit sucht, anstatt die „Bedingungen” des Marktes zu verbessern. Die in der Corona-Pandemie bis heute hohe und steigende Ungleichheit hat deutlich gezeigt, dass diese Ideologie der „marktkonformen Demokratie” gescheitert ist. Internationaler Handel ist und bleibt ein wichtiger Treiber der Wirtschaft, gerade in Deutschland. Allerdings müssen wir systemrelevante Sektoren anders behandeln als Luxusgüterproduktion, auf die wir auch verzichten können. Wie das genau geschieht, muss die Bundesregierung entscheiden, denn diese trägt die Verantwortung.