Japan: Ein Staatshaushalt als Zeitbombe?

21.11.2023

Die Wirtschaftswoche brachte jüngst einen Kommentar zur ökonomischen Situation in Japan. Dabei wir der japanische Staatshaushalt als „Zeitbombe“ tituliert. Die diesem zugrunde liegenden Ideen zur Staatsfinanzierung sind überholt, dieselben Argumente werden seit Jahrzehnten wiederholt, und dennoch wankt die japanischen Staatsfinanzierung keinen Yen.

Japan ist ein hochindustrialisiertes Land, welches ebenso wie Deutschland üblicherweise Exportüberschüsse aufweist. Die eigene Währung ist der Yen, und dieser hat einen flexiblen Wechselkurs. Die Wirtschaftswoche beklagt, dass der Yen im freien Fall wäre und dass dies die Wirtschaft in Bedrängnis bringen würde:

Verantwortlich für die Schwäche des Yen ist der geldpolitische Sonderweg der BoJ. Seit dem Debakel in den 1990er-Jahren hält sie den Zins nahe null. Der Staat nutzte die günstigen Finanzierungsbedingungen, um im großen Stil Anleihen auszugeben. Institutionelle Investoren wie Pensionskassen kauften die Papiere und reichten sie weiter an die BoJ, die so rund die Hälfte der Staatsschuld auf ihre Bücher lud. Die Industrienation mutierte zum Reallabor für die Modern Monetary Theory (MMT), der zufolge grenzenlose Verschuldung möglich ist – und der Staatshaushalt wurde zur Zeitbombe.

Natürlich ist Japan kein Reallabor für die MMT, denn das wär auch jedes weitere Land mit eigener Währung, flexiblem Wechselkurs und keiner nennenswerten Staatsverschuldung in ausländischer Währung. Dazu gehören z.B. China, die USA, Großbritannien, Schweden, die Schweiz und viele weitere Länder. Der Autor spielt darauf an, dass laut MMT eine „grenzenlose Verschuldung möglich ist“. Das ist seltsam ausgedrückt, passt allerdings zum neoklassischen Weltbild des Autors. In einer Welt, in der Geld aus Goldmünzen besteht in einem Goldstandard mit festen Wechselkursen, macht die Argumentation Sinn.

Der Staat muss sich über Steuern Goldmünzen besorgen, um Geld auszugeben. Höhere Verschuldung heißt letztlich höhere Steuern, und daher kann expansive Fiskalpolitik nicht funktionieren. Die Leute wüssten ja, dass sie bald höhere Steuern zahlen müssten. Während dieses Argument zwar im Text nicht kommt, würde es hervorragend dazu passen.

Zurück zur Staatsverschuldung: Die MMT weist darauf hin, dass eine Zahlungsunfähigkeit in eigener Währung nicht passieren kann, da die japanische Zentralbank das Monopol auf die Geldschöpfung des Yen hat. Die kann im Auftrag der Regierung alle Zahlungen dieser mit Geldschöpfung tätigen, indem sie die Konten der Banken im Zahlungssystem erhöht. Da das im Wesentlichen eine Art Excel-Tabelle ist, kann dabei nichts schiefgehen. Unabhängig von der Höhe des Schuldenstands oder vom Zins kann die Bank of Japan Geld im Auftrag der japanischen Regierung erzeugen, und zwar in gewünschter Höhe (innerhalb des gesetzlichen Rahmens, der dies zulässt).

Der Staatshaushalt ist also keineswegs eine Zeitbombe, da eine Regierung etwas anderes ist als ein Unternehmen, bei dem eine steigende Verschuldung durchaus ein Problem sein kann. Ein Blick auf die Daten zeigt, dass Japans Staatsverschuldung seit 1990 relativ konstant angewachsen ist. Dabei sind die Zinsen gefallen. Sie liegen seit 1995 nahe bei Null (unter 1 Prozent). Die Idee, dass steigende Staatsverschuldung zu höheren Zinsen führt, sollten wir also begraben. Das ist schlichtweg in den letzten 40 Jahren nicht der Fall gewesen.

Warum steigt der Zins nicht bei steigender Staatsverschuldung? Der Zins, hier der Einlagezins, ist eine Politikvariable, die von der japanischen Zentralbank vorgegeben wird. Diese legt fest, wie hoch die Guthaben bei der Bank of Japan (BoJ) verzinst sind, welche Banken halten (weil der Staat Geld ausgibt und weil sich Banken Geld bei der BoJ leihen.) Sobald die Staatsanleihen auch nur einen etwas höheren Zins haben als der Einlagezins, ist die Investitionsentscheidung der Banken klar: Sie kaufen Staatsanleihen, um so ihre Gewinne zu erhöhen.

Während Modern Monetary Theory (MMT) erklären kann, warum dem japanischen Staat das Geld nicht ausgeht, ihm die „Schulden“ nicht um die Ohren fliegen und warum der Zins so niedrig ist, können das andere Denkschulen nicht. So geht es in dem Artikel der Wirtschaftswoche weiter mit Fehleinschätzungen zur Wirtschaft:

Jahrelang klappte das [Niedrighalten der Renditen durch die BoJ] erstaunlich gut. Nun aber holen die Grundsätze der Haushaltspolitik den japanischen Staat ein. Denn diese Art der Geldschöpfung ist ein idealer Inflationsmotor. Nachdem Japan lange vor Preissteigerungen gefeit war und 2020 sogar in die Deflation rutschte, kommt seit 2021 wieder Schwung in die Teuerung. Seit Anfang 2022 ist die Inflation zurück, erreichte ihren Höhepunkt im Januar. Der fiel zwar mit 4,3 Prozent vergleichsweise moderat aus. Allerdings hält sich die Inflation hartnäckiger, als der BoJ lieb ist.

Es ist richtig, dass die BoJ Geld schöpft, wenn sie Anleihen ankauft, um Renditen niedrig zu halten. Allerdings ist dies niemals ein „idealer Inflationsmotor“. Der Ankauf von Anleihen, früher auch als QE bezeichnet, ist ein asset swap, ein Tausch von Forderungen. Die Banken verkaufen Staatsanleihen an die BoJ und bekommen dafür Reserven (Guthaben bei der Zentralbank). Diese Reserven werden zum Nullzins verzinst. Weiterverleihen können die Banken die Reserven nur untereinander, denn Unternehmen und Haushalte haben keine Konten bei der Zentralbank und können sich daher keine Reserven bei den Banken leihen.

Die Einsicht, dass der Ankauf von Staatsanleihen nicht inflationär wirkt, gibt es schon seit mehr als zehn Jahren. Daher ist es etwas seltsam, dass in Japan die etwas erhöhte Inflation nun angeblich durch Ankaufprogramme erzeugt worden sein soll, die es seit fast zwanzig Jahren gibt. Zudem ist die Inflation überall erhöht, auch in Ländern, die keine Ankaufprogramme haben.

Der Artikel in der Wirtschaftswoche zeigt auf, dass die MMT die reale Welt erklären kann, während neoklassisch ausgebildete Autoren daran verzweifeln. Sie sagen seit Jahrzehnten, dass in Japan irgendwann der Zins steigen würde und dann würde der Staatsbankrott oder alternativ die Hyperinflation kommen. Nichts davon ist eingetreten: 

Wer auf steigende Zinsen in Japan gewettet hat, hat über Jahre und Jahrzehnte Geld verloren. 

Wer auf fallende Kurse in Japan gesetzt hat, hat über Jahre und Jahrzehnte Geld verloren.

Wer auf Hyperinflation in Japan gesetzt hat, hat über Jahre und Jahrzehnte Geld verloren.

Wer auf Staatsbankrott in Japan gesetzt hat, hat über Jahre und Jahrzehnte Geld verloren.

Die Modern Monetary Theory ist eine Beschreibung der Funktionsweise des Geldsystems und damit eine Geldtheorie. Ihre Erklärungen können die empirische Realität erklären und genau das ist ihre Stärke. Wer aus ideologischen Gründen die Augen vor der MMT verschließt, wird auf Grundlage von fehlerhafter Theorie nur zufällig mal richtig liegen. Auf Dauer wird das nicht genug sein.