Führen höhere Schulden heute zu höheren Steuern morgen?

06.12.2023

In einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) wird folgende These vertreten: „Schuldenfinanzierung bedeutet in der Regel, dass in Zukunft höhere Steuern erhoben oder Ausgaben gesenkt werden müssen“. Diese zentrale Aussage ist theoretisch wie empirisch falsch und verhindert eine sachliche Diskussion der Schuldenbremse.

In dem Gutachten des BMWK geht es laut Titel um „Finanzierung von Staatsaufgaben: Herausforderungen und Empfehlungen für eine nachhaltige Finanzpolitik“. Der Anlass ist laut Gutachten:

„Die Finanzpolitik in Deutschland steht vor großen strukturellen Herausforderungen: die Bevölkerung altert, die digitale und ökologische Transformation muss vorangebracht werden und die Verteidigungs- und Außenpolitik ist neu auszurichten. Die öffentliche Infrastruktur muss wieder leistungsfähig werden und ist weiter auszubauen. Es ist zu entscheiden, wo Prioritäten gesetzt und wie diese finanziert werden können.“

Schon an dieser Stelle nimmt das Gutachten das Ergebnis quasi voraus. Es ist richtig, dass wir vor großen strukturellen Herausforderungen stehen in Deutschland. Da die Ressourcen beschränkt sind, gilt es Prioritäten zu setzen: in welchen Sektoren setzen wir Arbeitskräfte ein, Rohstoffe, Energie? In welchen Berufen bilden wir unsere jungen Menschen aus, im Handwerk, an den Berufsschulen, an den Fachhochschulen und Universitäten? Die Wirtschaft besteht aus diesen Dingen, und Geld ist das Mittel, um Zugriff auf Ressourcen zu gestatten. Speziell für den Staat ist Geld das Mittel, die Ressourcen kaufen zu können, um seine Aufgaben umsetzen zu können. Mit „Finanzierung“ hat dies aber nichts zu tun, wenn es um die Ebene der Bundesregierung geht (und um diese geht es hier).

Wenn die Bundesregierung Geld ausgibt, dann erhöht die Bundesbank im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) das Konto der empfangenden Bank und belastet das Zentralkonto des Bundes. Die Bank wiederum erhöht das Guthaben des Empfängers (Haushalt, Firma, öffentliche Institution). Wir sehen, dass eine „Finanzierung“ hier nicht vorliegt, denn die Bundesregierung tätigt ihre Ausgaben, ohne dass sie vorher an Geld kommen muss. „Finanzieren“ hieße ja, dass erst Geld beschafft werden muss, welches dann ausgegeben wird. Finanzieren können wir mit Einkommen oder per Kredit. Allerdings müssen diese vor den Ausgaben dazu geführt haben, dass wir genügend Geld haben.

Bei der Bundesregierung ist es so, dass Ausgaben das Zentralkonto des Bundes reduzieren. Landet es im negativen Bereich, ist das BMF gezwungen, es wieder in den positiven Bereich zu bringen. Denn sonst darf die Bundesbank entsprechende der Regeln der Eurozone (Gesetze der EU) am nächsten Tag kein Geld mehr für die Bundesregierung schöpfen. Die Bundesregierung „finanziert“ also nicht, wenn sie das Konto ausgleicht, sondern sie erfüllt gesetzliche Vorgaben, die ihr von außen vorgegeben werden. Ihre Ausgaben hat sie zu dem Zeitpunkt aber schon längst getätigt.

Praktischerweise funktioniert der Ausgleich des Kontos des BMF quasi vollautomatisch. Ist der Kontostand negativ nach den Staatsausgaben, werden Steuereinnahmen auf diesem Verrechnungskonto das Minus reduzieren. Reicht es nicht aus, wieder ins Plus zu kommen, werden Guthaben aus dem Verkauf von Staatsanleihen hinzugezogen. Damit wird das Konto vor Ende des Geschäftstages wieder auf Null oder in den leicht positiven Bereich gebracht. In der Pandemie hatte die Bundesregierung wohl aus Angst davor, irgendwann keine Staatsanleihen mehr verkaufen zu können, den Kontostand massiv in die Höhe getrieben. Das wäre aber nicht nötig gewesen.

Wir halten an dieser Stelle fest, dass die Bundesregierung über die „Finanzierung“ ihrer Ausgaben keine Gedanken verschwenden muss. Erstens kann sie einfach so Geld ausgeben, und zweitens bringt sie ihr Konto automatisch wieder ins Plus. Das ist anders als bei der schwäbischen Hausfrau, die erst Geld haben muss, bevor sie es ausgibt. Sie kann auch mit einem Überziehungskredit über Monate oder Jahre hinweg leben. Allerdings kann ihr im Gegensatz zur Bundesregierung das Geld ausgehen. Letztere kann Geld ausgeben wie gewünscht, solange sie ihr Konto ausgleichen kann. Das geht dann, wenn Investoren (die Banken am Primärmarkt) die Staatsanleihen als risikolos ansehen. Wenn die EZB als Käufer der letzten Hand zur Verfügung steht, dann ist dies genau erfüllt. Die Bundesregierung kann, wie wir in der Pandemie gesehen haben, problemlos 100 Mrd. € und mehr an Staatsanleihen verkaufen, wenn sie entsprechend hohe Ausgaben getätigt hat.

Kommen wir nun zu der zentralen These des Gutachtens: „Schuldenfinanzierung bedeutet in der Regel, dass in Zukunft höhere Steuern erhoben oder Ausgaben gesenkt werden müssen".

(Hier ist der Kasten, der mit dem Satz beginnt:)

Mit Blick auf die vorangehenden Überlegungen fällt es schwer, den Satz zu verstehen. Eine „Schuldenfinanzierung“ gibt es nicht und sie ist auch nicht möglich. Die Bundesregierung kann nur Ausgaben festlegen in ihrem Haushalt, aber nicht die „Finanzierung“ – diese ist vorgegeben. Bezahlt wird mit Geldschöpfung, in der Folge werden dann Steuereinnahmen dagegengerechnet und die Differenz mit Erlöse aus Staatsanleihenverkäufen abgedeckt. Bei Verkäufen von Staatsanleihen tauschen Banken Reserven gegen Staatsanleihen, was die Verschuldung des Staates gar nicht erhöht. Dafür wesentlich ist ja die Differenz zwischen Staatsausgaben und Steuereinnahmen. Der Kauf von Staatsanleihen ist aus Sicht der Banken ein Aktivtausch: Reserven runter, Staatsanleihen rauf. Mit dem fiskalischen Defizit oder der „Staatsverschuldung“ hat das nichts zu tun.

Wenn wir den Satz so verstehen, dass höhere fiskalische Defizite und dadurch höhere Staatsschulden in Zukunft dazu führen, dass „höhere Steuern erhoben oder Ausgaben gesenkt werden“, dann entspricht das wohl dem, was die Autoren im Hinterkopf hatten. Allerdings gibt es auch hier ein Problem: Die Bundesregierung kann nicht in Zukunft „höhere Steuern“ erheben – sie kann es nur versuchen. Die Sache ist ein bisschen komplizierter, als die Autoren es sich hier machen, also spannen wir den Bogen ein bisschen weiter auf. Es soll aber so kurz und knapp wie möglich sein, um danach zu einer abschließenden Bewertung zu kommen.

Während wir gerne salopp von „Steuern“ sprechen, gibt es einen Unterschied zwischen Steuerverbindlichkeiten, Steuersätzen, Steuerarten und Steuerzahlungen. Die Bundesregierung und Regierungen auf unteren Ebenen bestimmen darüber, welche Steuerarten es überhaupt gibt und wie hoch die Steuersätze sind. Sie bestimmen auch, wo die Steuerzahlungen hingehen. Steuerverbindlichkeiten sind das, was wir zahlen müssen, und diese richten sich aber häufig nach irgendwelchen Variablen. Beispielsweise muss ich Mehrwertsteuer nur bezahlen, wenn ich etwas kaufe. Sie richtet sich nach dem Preis des Produkts. Eventuell ist die MwSt. reduziert oder entfällt sogar. Auch bei Einkommen ist es so, dass wir erst nach Überschreiten einer gewissen Einkommensgrenze Steuern zahlen. Dabei steigen die Steuersätze mit unserem zu versteuernden Einkommen.

Die Bundesregierung hat also gar keine Kontrolle über die Höhe der Steuerzahlungen. Sie könnte versuchen, Steuersätze zu erhöhen, um so höhere Steuerzahlungen auszulösen. Das Problem dabei wird aber sein, dass wir Haushalte ärmer sind, wenn wir mehr Steuern zahlen sollen. Reduzieren wir dann unseren Konsum, wird die Steigerung bei den Einkommensteuern durch eine Reduktion bei der MwSt. konterkariert. Was netto dabei herauskommt ist sehr schwer zu schätzen. Ebenso schwer einzuschätzen sind die Auswirkungen von Ausgabensenkungen auf die Steuereinnahmen. Der Staat kann nicht einfach Ausgaben reduzieren, ohne dass die Steuereinnahmen ebenso absinken. Wenn der Staat z.B. die staatlichen Löhne reduziert. zahlen die öffentlich Bediensteten weniger Steuern (bei gleichen Steuersätzen). Staatsausgaben und Steuereinnahmen sind also verknüpft und wir können nicht annehmen, dass eine Veränderung bei einer der beiden Variablen keinen Einfluss auf die andere hat.

„Schuldenfinanzierung bedeutet in der Regel, dass in Zukunft höhere Steuern erhoben oder Ausgaben gesenkt werden müssen". 

Der Blick auf die Theorie sagt uns, dass dieser Satz so nicht stimmen kann. Es ist in der Realität viel komplexer, und man sollte Dinge nicht einfacher machen als sie sind. Die Bundesregierung kann zudem auch die Ausgaben nicht komplett kontrollieren. Bei steigender Arbeitslosigkeit, so wie jetzt gerade, steigen auch die Sozialausgaben an. Damit steigen das Defizit und die „Staatsschulden“, ohne dass die Bundesregierung das verhindern könnte.

Wie sieht es denn empirisch aus? Bedeuten höhere Staatsschulden gestern, dass wir heute „höhere Steuern“ zahlen müssen oder das Ausgaben gesenkt wurden? Die globale Finanzkrise von 2008/09 führte dazu, dass die deutsche Staatsverschuldung von etwas über 60% des BIP auf 80% emporschoss – ein Anstieg von 20 Prozent innerhalb von zwei Jahren. Gab es in der Folge Erhöhungen der Steuern? Gab es eine Reduktion der Staatsausgaben? Die Antwort lautet in beiden Fällen: nein. Während die EU andere Länder der Eurozone zu einer Kürzung der Staatsausgaben zwang, was katastrophale Auswirkungen auf die Wirtschaft dieser Länder hatte, gingen bei uns die Ausgaben weiter nach oben, wie die folgende Abbildung zeigt.

Wir stellen also fest, dass die zentrale Aussage aus dem Gutachten des BMWK weder theoretisch noch empirisch haltbar ist. Höhere Staatsschulden heute bedeuten keineswegs, dass die Steuern morgen erhöht werden müssen oder die Ausgaben gekürzt. Dies könnte theoretisch zwar der Fall sein, muss es aber nicht. Warum sollte die Bundesregierung morgen die Steuern erhöhen, wenn wir Stand heute noch 2,5 Millionen Arbeitslose haben und ein stille Reserve, die noch deutlich darüber liegt? Solange es noch Arbeitskräfte gibt, kann die Bundesregierung die Ausgaben erhöhen ohne Steuersätze zu erhöhen. Erst wenn wir nach an der Vollbeschäftigung sind und es in einigen Sektoren zu Knappheiten kommt, müsste sich die Bundesregierung damit beschäftigen, wie sie die Ressourcen aus dem privaten in den öffentlichen Sektor zieht.

Sollte die Bundesregierung die Aussage aus dem Gutachten für bare Münzen nehmen, so wird dies dazu führen, dass sie das Produktionspotential unserer Gesellschaft massiv unterschätzt. Sie wird die Ausgaben zu niedrig halten, sinnlos kürzen, was nur noch mehr Arbeitslosigkeit erzeugt, und Steuern erhöhen, was die Wirtschaft wieder Richtung Rezession führt. Wie das die Wählerinnen und Wähler überzeugen soll, 2025 erneut für die Parteien der Ampel zu stimmen, erschließt sich mir nicht. Viel gewichtiger allerdings sind die Auswirkungen auf die strukturellen Herausforderungen. Diesen werden wir mit derartigen Theorien nicht gerecht werden können. Die Zeit drängt, gerade in Bezug auf den Klimawandel, zu raschem Handeln.