Ein Blick auf das europäische Manifesto (Blanchard et al.)

24.10.2023

Ein Gruppe von ÖkonomInnen hat ein europäisches Manifesto publiziert. Ein Blick darauf zeigt, dass die EU und insbesondere die EU aktuell makroökonomisch dysfunktional sind und es neuer Regeln bedarf. Wie sind diese Regeländerungen einzuschätzen?

In einem Manifest zur Zukunft EU/Eurozone, welches u.a. von Olivier Blanchard unterzeichnet ist, heißt es (eigene Übersetzung):

Ein schrittweiser und pragmatischer Föderalismus sollte die folgenden sieben Elemente umfassen:

  1. Eine grundlegende Reform des EU-Haushalts auf der Grundlage einer dauerhaften oder zumindest wiederkehrenden zentralen fiskalischen Kapazität zur Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter im Rahmen des dreifachen grünen, digitalen und sozialen Übergangs, die durch glaubwürdige Eigenmittel gestützt wird. Angemessene und stabile Mittel müssen für den Wiederaufbau der Ukraine bereitgestellt werden.

  2. Neue finanzpolitische Regeln, um die wirtschaftliche und soziale Konvergenz innerhalb der EU voranzutreiben und die notwendigen Voraussetzungen für langfristiges Wirtschaftswachstum und nachhaltige öffentliche Finanzen zu schaffen.

  3. Ein entscheidender Schritt in Richtung des Aufbaus integrierter und tiefer europäischer Finanzmärkte auf der Grundlage der Emission eines europäischen sicheren Vermögenswerts und der Definition eines vollwertigen Krisenmanagementsystems.

  4. Eine Industriepolitik, die den Übergang zu einem neuen EU-Geschäftsmodell" fördert, das innovative Produktionen, effiziente Dienstleistungen, hochwertige Bildungssysteme und gut ausgebildete Arbeitskräfte miteinander verbindet und auf den Erfolgen des während der Pandemie gestarteten Programms SURE aufbaut.

  5. Eine überarbeitete Beihilfepolitik, die darauf abzielt, den Binnenmarkt zu stärken - und nicht zu untergraben - und neue europäische Instrumente, um die Rolle der EU in internationalen Wertschöpfungsketten zu sichern. Kurz gesagt, das Ziel sollte nicht "Made in Europe", sondern "Made with Europe" sein.

  6. Eine gemeinsame Bildungs- und Ausbildungsstrategie sowie konkrete Programme zur Eingliederung von Migranten in die EU-Arbeitsmärkte, als grundlegender Baustein einer EU-Einwanderungspolitik.

  7. Eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU im Rahmen der NATO, die jedoch über ausreichende Autonomie und Sichtbarkeit verfügt und damit robust gegenüber möglichen neuen isolationistischen Tendenzen in den USA nach den Wahlen im November 2024 ist.


Die Stoßrichtung hier ist ganz klar Richtung mehr EU/Europa, Richtung „ever-closer union” und entsprechend den United States of Europe. Die AutorInnen erkennen an, dass die makroökonomische Politik der letzten zwei Jahrzehnte versagt hat. Gleich die erste Forderung ist die nach der zentralen fiskalischen Kapazität. Gemeint ist ein „Euro Treasury“, als ein Pendent zur Europäischen Zentralbank (EZB), welches die Ausgaben der EU tätigt und auch Steuereinnahmen erzielt sowie Einnahmen aus dem Verkauf von Staatsanleihen. U.a. soll es um den Green Deal gehen aber auch um Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine. Das Problem im Hintergrund ist einfach. Nach dem Paradigma des Steuerzahlermythos müssen Staatsausgaben durch Steuern oder Erlöse vom Verkauf von Staatsanleihen finanziert werden, was eine höhere Staatsverschuldung mit sich bringt. Nach diesem Narrativ lässt sich die europäische Wirtschaft also nur grün umbauen (und die Ukraine nur wiederaufbauen), wenn wir entweder höhere Steuersätze akzeptieren oder höhere Staatsverschuldung, was nach dem alten Paradigma die zukünftigen Generationen belastet.

Politisch gesehen sind das keine guten Vorzeichen. Wer will schon freiwillig auf Geld verzichten, welches dann in die Ukraine fließt? Das wird um so unpopulärer sein, je weniger Land die Ukraine zurückerobert. Sollte es in einigen Jahren einen Frieden geben innerhalb der „Grenzen”, die schon im letzten Jahr bestanden, wäre es der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln, warum die ganze Zerstörung überhaupt notwendig war und der Krieg solange gedauert hat, wenn am Ende die Ukraine dadurch nicht wirklich Gebiete zurückerobern konnte.

Auch im Bereich des Klimaschutz gibt es gerade sehr viel Unwillen und es ist zu befürchten, dass auch für dieses Thema die Finanzierung ein Problem sein könnte, wenn dafür gefühlt Steuern herangezogen werden. Rechtspopulistische Parteien entdecken zunehmend dieses Thema und versprechen ihren WählerInnen, dass diese mehr von ihrem Einkommen behalten sollten auf Kosten der Ausgaben für den Naturschutz, den Kampf gegen und die Anpassung an den Klimawandel, und den Aufbau nachhaltiger Wirtschaftssysteme.

Auch der zweite Punkt dreht sich um die Fiskalpolitik. Bisher ist es ein Problem, dass die Defizitgrenzen viel zu knapp bemessen sind. Ein Blick auf die aktuellen staatlichen Defizite in der EU zeigt, dass gleich mehreren Ländern 2024 eine “excessive deficit procedure” droht, also eine Strafe aufgrund von „exzessiven” staatlichen Defiziten (Differenz zwischen Staatsausgaben und Steuereinnahmen).

Mit dem europäischen sicheren Vermögenswerts (European safe asset) sind Eurobonds gemeint, also Staatsanleihen der EU-Kommission. Für diese könnte die EZB als „Dealer of Last Resort” (DoLR) agieren, also als Ankäufer der letzten Hand, so wie ich das seit 2014 in meinem Buch „Geld und Kredit: Eine Europäische Perspektive” vorschlage. Der Vorteil ist, dass dann die EU-Kommission die Ausgaben jederzeit erhöhen kann, um eine zu geringe Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in der Eurozone auszugleichen. Aktuell agiert die EZB als DoLR für die nationalen Regierungen, was in der Pandemie dazu geführt hat, dass z.B. Griechenland selbst bei einem Stand der Staatsverschuldung von mehr als 200 Prozent des BIP nicht in Problem geriet. Hier geht es darum, Kaufkraft und damit Macht nach Brüssel zu transferieren. Das ist eine höchst wichtige politische Entscheidung, was wohl der Grund dafür ist, dass hier ein Fachvokabular gewählt wird, der diesen Punkt fast unsichtbar werden lässt.

Das SURE-Programm aus dem nächsten Punkt war zur Finanzierung von Beschäftigungsprogrammen in der Pandemie gedacht und könnte zu einer Europäischen Jobgarantie ausgebaut werden, so wie Pavlina Tcherneva, Estaban Cruz und ich das vor ein paar Jahren vorschlugen. Die Industriepolitik soll helfen, die Zukunftstechnologien zu fördern, an die sich private Unternehmen ohne staatliche Unterstützung wohl nicht herantrauen. Beim Punkt 5 geht es wohl darum, keinen Subventionswettlauf nach unten loszutreten. Punkt 6 behandelt die Frage, wie migrantische Arbeitskräfte zukünftig eingebunden werden können und Punkt 6 den Fall, wie sich die EU in der NATO zu ihrem Partner USA verhalten sollte im Falle eines Wahlsieges von Donald Trump.

Interessant ist das Europäische Manifest, weil es das Euro Treasury wieder nach oben holt, welches zuletzt Mitte der 2010er Jahre diskutiert wurde. Es ist ein wesentliches Puzzleteil einer EU, die ihrer makroökonomischen Probleme mangelnder Nachfrage dadurch löst, dass über Brüssel die Ausgaben erhöht werden. Allerdings erscheint es problematisch, derartige Kompetenzen jetzt in die EU zu vergeben. Erstens ist die EU alles andere als „keynesianisch/MMT-affin”. Wer sollte Instrumente einsetzen, die im Rahmen der Austeritätspolitik vom politischen Establishment in Brüssel abgelehnt worden sind? Welche BürokratInnen sind dazu befähigt? Zweitens ist die EU-Kommission keine Regierung, ihr Präsident nicht durch ein Misstrauensvotum des EU-Parlaments abzusetzen. Es fehlen also wesentliche demokratische Elemente, nicht zuletzt eine Kammer, wo alle BürgerInnen mit ihren Stimmen gleichberechtigt sind. Zudem sollte die europäischen BürgerInnen gefragt werden, ob eine derartige Übertragung von Kompetenzen und Macht überhaupt gewünscht ist.

Das Europäische Manifest von Blanchard et al. dokumentiert das Umdenken weiter Teile des wirtschaftspolitischen Mainstreams und die Annäherung an makroökonomische Positionen der MMT, die ich u.a. zusammen mit Michi Paetz in diesem Papier (open access) entwickelt habe. Der Abstand zwischen diesen beiden Positionen ist nun deutlich geringer geworden. Dies lässt hoffen, dass sich das makroökonomische Management in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deutlich verbessert und wir die Zeit der Austerität irgendwann überwunden haben werden.