Die Rückkehr der Zombie-Ökonomik

07.05.2023

Einige Ideen scheinen nicht totzukriegen zu sein. So gewinnt die Idee gerade wieder Auftrieb, dass Krisen gut sind für die Wirtschaft und der Staat nicht (immer) eingreifen soll. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 führten derartige Ideen zum Zusammenbruch von Demokratien.

Die goldenen Zwanziger Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs. Optimismus führte dazu, dass Haushalte sich verschuldeten, um sich die neuen technologischen Innovationen leisten zu können: Autos und Geschirrspüler, zum Beispiel, und einen entsprechenden Lebensstil. Es wurde viel auf Pump gekauft, auch Aktien und Immobilien. Deren Preise stiegen Jahr für Jahr, und Millionäre wurden gemacht. Dann kam 1929 der große Crash, die Weltwirtschaftskrise. Haus- und Aktienpreise kam wieder herunter, viele Spekulanten verloren ihr letztes Hemd. Die Haushalte und Unternehmen reduzierten ihre Ausgaben, um ihre Verschuldung zu reduzieren.

In dieser Situation entstand Massenarbeitslosigkeit. Die Unternehmen passten die Produktion nach unten an, Arbeitskräfte wurden entlassen. Dadurch sank die Nachfrage nach Güter und Dienstleistungen noch weiter. Im Jahr 1933 wurden in den USA und in Deutschland Wahlen abgehalten. Die jeweilige Regierung wurde abgestraft, die Arbeitslosen traf ja keine Schuld an ihrer Situation. Die zu geringen Ausgaben waren Schuld an der Arbeitslosigkeit der Millionen.

Vor diesem Hintergrund überraschen die Aussagen von Markus Brunnermeier (Princeton) jüngst in der NZZ. Anstatt die Erfolge der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft zu loben, sollen nach Brunnermeier die Individuen selbst vorsorgen.

NZZ: Welche Lehren sind zu ziehen aus der wachsenden Krisenanfälligkeit?

MB: Wir müssen uns verabschieden vom Gedanken, Krisen vermeiden zu können. Besser ist es, Gesellschaften widerstandsfähiger zu machen, so dass sie zurückfedern können, wie Schilf im Sturm. Es braucht mehr Sicherheitspolster. So zeigte die Pandemie die Verletzlichkeit der Wirtschaft durch die Just-in-time-Produktion. Prozesse waren so ausgestaltet, dass Komponenten erst in letzter Minute eintrafen. Lager wurden aus Kostengründen auf ein Minimum reduziert.

NZZ: Ein gemeinsamer Nenner der jüngsten Krisen ist, dass der Staat und die Notenbanken stets mit riesigen Geldsummen interveniert haben.

MB: Ja, das verstärkt die Krisenanfälligkeit zusätzlich. So entsteht die Erwartung, dass der Staat auch in künftigen Krisen aushelfen wird. Also trifft man weniger Sicherheitsvorkehrungen, was gefährlich ist. Ziel müsste die Förderung der Eigeninitiative sein, so dass sich jeder Einzelne anpasst.

NZZ: Wie kommt man aus dieser Erwartungshaltung heraus? Wie sorgt man dafür, dass nicht stets auf die Rettung durch die Geld- oder Finanzpolitik gesetzt wird?

MB: Der Staat muss darauf verzichten, bei kleineren Krisen einzugreifen. Um beim Meistern grosser Krisen besser zu werden, ist es hilfreich, ab und zu eine kleine Krise durchzumachen. Es ist wie beim menschlichen Immunsystem: Wenn Eltern ihr Kind in steriler Umgebung erziehen und fernhalten von Bakterien, wird das Kind als erwachsene Person sehr krankheitsanfällig. Kinder sollten Krankheiten durchleben, damit das Immunsystem lernt, wie man kleinere und auch grössere Krisen meistert.

Während die erste Antwort wirtschaftspolitischer Konsens ist – Konjunkturzyklen und Krisen gehören zum Kapitalismus – geht es danach seltsam weiter. Wie die NZZ richtig bemerkt, haben "Staat und die Notenbanken stets mit riesigen Geldsummen interveniert". Konkret: die Europäische Zentralbank hat in der Krise durch ihr Ankaufprogramm (Pandemic Emergency Purchase Programme; PEPP) dafür gesorgt, dass den Bundesregierungen in der Eurozone das Geld nicht ausging. So konnte die deutsche Bundesregierung Millionen für die Impfstoffentwicklung bereitstellen und zudem auch das Kurzarbeitergeld einführen. Hier wurden Milliarden Euro ausgegeben, um einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Ohne Kurzarbeitergeld hätten wir einen heftigen Anstieg der Arbeitslosigkeit hinnehmen müssen, so wie in den USA, wo Millionen Arbeitskräfte ihren Arbeitsplatz verloren. Das war besonders fatal, weil die Gesundheitsversicherung in den USA am Arbeitsplatz aufgehängt ist. Wer nicht arbeitet, ist also dort nicht krankenversichert. Ohne das PEPP der EZB wäre zudem der Euro zusammengebrochen, denn ein Schuldenstand von 210 Prozent wie bei der griechischen Regierung hätte sicherlich zur Zahlungsunfähigkeit geführt.

Brunnermeier erwähnt all dies nicht und bringt nur das Argument, dass das staatliche Eingreifen die Krisenanfälligkeit verstärken würde. Der Einzelne müsse sich anpassen, mehr Eigeninitiative sei gefragt. Diese Aussagen überraschen, denn bei makroökonomischen Problemen ist das Individuum ja nicht in der Lage, durch sein Handeln die Situation zu drehen. Wer in der Krise arbeitslos wird, der gibt halt weniger Geld aus und sorgt damit für weniger Nachfrage und weniger Produktion, was wiederum mehr Arbeitslosigkeit generiert. Unter Makroökonomen ist diese "fallacy of composition" eigentlich unumstritten – was optimal für den Einzelnen ist, kann fatal für die Gesellschaft sein. Mein Versuch, durch weniger Geldausgaben zu sparen, reduziert das Einkommen von jemand anders und damit auch dessen Ersparnis. Solche makroökonomischen Effekte sind der Grund, warum es Makroökonomik als Feld überhaupt gibt.

Ebenfalls völlig unklar bleibt, welche Alternative zum PEPP der EZB für die griechische Regierung bestanden hätte. Wie sollten denn die Griechen mit mehr Eigeninitiative ihre Staatsausgaben erhöhen? Die Ausgaben der griechischen Regierung werden von der griechischen Zentralbank durchgeführt, die in deren Auftrag Konten der Banken erhöht. Da können die Griechen nicht bei helfen. Die Frage, ob die Zentralbank die Ausgaben der griechischen Regierung durchführen darf, ist eine juristische Frage. Das Interview geht dann wie folgt weiter:

NZZ: Machen wir es konkret: Bei was für einem Teilsystem sollte man stärker in Kauf nehmen, dass es in Schwierigkeiten gerät?

MB: Wenn Staaten – wie jüngst in der Corona-Pandemie – zu sehr versuchen, den Konkurs von Firmen zu verhindern, führt dies dazu, dass Zombie-Firmen weiterleben und das Gesamtsystem schwächen. Wenn hingegen einige Firmen sterben und durch neue ersetzt werden, wird die Gesamtwirtschaft produktiver. Ein Beispiel ist die New Yorker Restaurantszene. Sie ist sehr kompetitiv und von hoher Qualität. Das auch deshalb, weil ständig Restaurants pleitegehen und neue entstehen. So wird die Szene robuster und besser.

Jetzt sind wir endgültig bei den Zombie Economics anbelangt. Die Idee, dass es eine "gleichgewichtige" oder "neutrale" Wirtschaftspolitik gibt, ist schon häufig widerlegt worden. Der Zins der Zentralbank ist eine politische Variable, ebenso die Staatsausgaben und die Steuersätze. Die Zentralbank bestimmt den Leitzins, die Bundesregierung die Höhe der Ausgaben und die Steuersätze (und die nachgelagerten Regierungen bestimmen ihre jeweiligen Ausgaben und Steuersätze). Es kann also keine "Zombie-Firmen" geben, da es keine "Neutral"-Stellung der Wirtschaftspolitik gibt.

Brunnermeier ist zuzustimmen, wenn er den Prozess beschreibt, dass bessere Firmen schlechtere Firmen verdrängen. Aber der Zeitpunkt für diesen Prozess ist der Aufschwung und nicht die Krise. In der Krise müssten durch die "kreative Zerstörung" (Schumpeter) Millionen mit Arbeitslosigkeit bezahlen, im Aufschwung würde eine höhere Nachfrage zu höhere Löhnen führen. Die große Lehre aus der Großen Depression ist also die, dass der Staat die Nachfrage stabilisieren muss. Dies hat er auch getan – in Deutschland und der Eurozone hat das sogar besser funktioniert als in den USA. Dort musste die Regierung Biden Schecks über 2.500 US-Dollar an alle Bürgerinnen verschicken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Corona-Pandemie basierte also auf wesentliche Ideen der Makroökonomik, die sich auch in den Lehrbüchern wiederfinden. Die Idee, dass der Staat sich raushalten soll, weil er sonst Zombie-Firmen erzeugt, gehört selbst zu den "Zombie Economics". Ohne eine ausreichende gesamtwirtschaftliche Nachfrage können die Firmen nicht wirtschaften.