Die Reform der Fiskalregeln: Anpassungspfad verhindern!

11.12.2023

Heute Abend wird in Brüssel über die Reform der Fiskalregeln verhandelt. In der Pandemie hatte sich gezeigt, dass ein Ausschalten der Fiskalregeln im Stabilitäts und Wachstumspakt zu mehr Stabilität und mehr Wachstum führt. Leider soll es in die andere Richtung gehen: Anpassungspfade für Staatsschuldenquoten sind geplant. Diese würden die EU und die Eurozone in den wirtschaftlichen Abgrund führen und sollten auf alle Fälle verhindert werden.

Die Fiskalregeln der EU sind seit langem umstritten. In meinem Buch „Geld und Kredit: Eine €-päische Perspektive“ schreibe ich seit der ersten Auflage von 2014 gegen sie an. Warum? Die Fiskalregeln legen Grenzwerte fest für staatliche Defizite (Staatsausgaben minus Steuereinnahmen) und „Staatsschulden“. Diese liegen bei drei Prozent für Defizite und sechzig Prozent für Staatsschulden (Summe aller Staatsausgaben minus Summer aller Steuereinnahmen). Diese Fiskalregeln wurden in den 1990er Jahren eingeführt, weil die Ökonomen dem Staat nicht trauten. Sie sollten die Staatsausgaben reduzieren und eine „fiskalische Nachhaltigkeit“ garantieren. Letztere war damals ein Thema, weil die EZB erklärte, sie würde die nationalen Regierungen im Falle eines Falles nicht unterstützen, indem sie Anleihen kaufen würde. Dadurch waren die nationalen Regierungen auf die Banken am Primärmarkt als Abnehmer ihrer Anleihen angewiesen, die wiederum auf „die Märkte“ schauten, an die sie die Anleihen weiterverkaufen würden.

Die Ausstiegsklausel des Stabilitäts- und Wachstumspaktes

In der Folge des Platzens der irischen und spanischen Immobilienkrise von 2008/09 brach die Wirtschaft der Eurozone ein, was auch die Steuereinnahmen zum Einbruch brachte. Die fiskalischen Defizite schnellten weit über die erlaubten drei Prozent hinaus. Ein Ausschalten der Defizitgrenzen war nicht vorgesehen, also wurden „exzessive“ Defizite mit einer Kürzung der Staatsausgaben bestraft. Das allerdings würgte die Wirtschaft weiter ab und damit auch die Steuereinnahmen. In Griechenland, wo besonders hart gekürzt wurde, stieg in der Folge die Staatsverschuldung von 130 Prozent auf 180 Prozent. Die Fiskalregeln scheiterten an der Realität. Weil viele das schon ahnten, wurde bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes eine allgemeine Ausstiegsklausel im Vertrag von Maastricht verankert. Diese wurde 2020 aktiviert und hat die erfolgreiche wirtschaftspolitische Begleitung der Pandemie wesentlich geprägt.

De facto konnte alle nationalen Regierungen die Ausgaben an den realen Problemen ausrichten. Die Arbeitslosigkeit sank, Impfstoffforschung wurde finanziert, Impfstoffe gekauft und die Menschen geimpft. Kurzarbeitergeld half den deutschen Unternehmen, ihre Beschäftigung stabil zu halten, KfW-Kredite schützten vor kurzfristiger Zahlungsunfähigkeit. Fiskalische Defizite waren hoch, wurden aber nicht bestraft, da ja der Stabilitäts- und Wachstumspakt ausgesetzt war. So waren Beschäftigung und BIP im Laufe des Jahres 2021 schon wieder über dem Niveau von 2019. Die wirtschaftspolitische Reaktion war also deutlich erfolgreicher als damals nach der Finanzkris von 2008/09. 

Prinzipien der Bundesregierung

Vor diesem Hintergrund würde man sich wünschen, dass die deutsche Bundesregierung die dysfunktionalen Schönwetterregeln deutlich reformieren würde. Die Prinzipien der Bundesregierung für die Reformdiskussion der EU-Fiskalregeln (PDF) wurden aber anscheinend von Autoren verfasst, die eine komplett andere Sicht auf die Dinge haben:

Die Schuldentragfähigkeit ist seit 2012 in der Eurozone durch das Handeln der EZB als Aufkäufer der letzten Hand sichergestellt, denn so können nationale Regierungen ihre Staatsanleihen immer an Banken verkaufen in der Erwartung der Banken, dass sie diese im Zweifelsfall an die EZB weiterverkaufen können. Damit haben wir risikolose Anleihen und die Banken würden jedes Angebot an Staatsanleihen nachfragen. Eine Zahlungsunfähigkeit einer nationalen Regierung ist unter diesen Umständen ausgeschlossen. So erreichte die griechische „Staatsverschuldung“ im Jahr 2020 über 210 Prozent, ohne dass es zu Problemen mit der „Schuldentragfähigkeit“ oder der „Sicherung solider Haushalte“ kam.

Ganz im Gegenteil zu den Ausführungen der Prinzipien oben hängt die Handlungsfähigkeit des Staates keinewegs an den öffentlichen Finanzen. Sie hängt in der Eurozone an der Frage, ob die EZB die Zahlungsfähigkeit der nationalen Regierungen sicherstellt oder nicht. Seit über zehn Jahren hat die EZB diese Rolle, damals unter Mario Draghi („whatever it takes“), angenommen. Insofern brauchen wir keineswegs einen „schrittweisen und hinreichenden Abbau der Schuldenstände ... im Verhältnis zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, vor allem nicht in den „Mitgliedsstaaten mit deutlich erhöhten Schuldenquoten“. Wenn das wirklich so in die Fiskalregeln aufgenommen und umgesetzt werden würde, was würde dann passieren?

Unangenehme Arithmetik

Die neuen Regeln würden Länder wie Belgien, Italien und Griechenland zwingen, ihre Staatsausgaben zu reduzieren, um so vermeintlich die Staatsschuldenquote zu reduzieren. Das Problem dabei ist, dass dies wohl so nicht funktionieren wird, wie ich im April erklärt hatte. Eine „fiskalische Konsolidierung“ hat laut IWF fast immer dazu geführt, dass die Staatsschuldenquote gestiegen ist. Warum? Eine Reduktion der Staatsausgaben reduziert die Einnahmen der Haushalte und Firmen, was die Wirtschafts zum Absturz bringt. Dadurch sinken auch die Steuereinnahmen, dass fiskalische Defizite wird größer. Da gleichzeitig das BIP kleiner wird, steigt der Zähler und es sinkt der Nenner – die Staatsschuldenquote steigt.

Selbst wenn das Projekt erfolgreich wäre, würde es sich wohl trotzdem selbst zerstören. Warum? Die „Staatsschulden“ können nur abgebaut werden, wenn die Steuereinnahmen über den Staatsausgaben liegen. Das bedeutet wiederum, dass die Haushalte und Unternehmen mehr Geld an die Regierung überweisen als sie andersherum von ihr bekommen. Somit sinkt ceteris paribus (alles andere unverändert) das Geldvermögen des privaten Sektors. Der Überschuss des Staates ist das Defizit des privaten Sektors, genau wie das Defizit dem Überschuss des privaten Sektors entspricht. In Deutschland kann man ja vielleicht noch hoffen, dass im internationalen Handel die Deutschen mehr verkaufen als kaufen und so einen Geldvermögensüberschuss erzielen, der das Geldvermögensdefizit durch den staatlichen Überschuss vollständig kompensieren kann. Für Länder wie Belgien, Italien oder Griechenland ist eine solche Position aber völlig unrealistisch bzw. nur bei Massenarmut mit dem entsprechenden Einbruch der Importe an Konsumgütern zu erreichen.

Quo vadis, Europa?

Ein Anpassungspfad für die Schuldenstandsquote wäre eine Garantie dafür, dass die Eurozone sich weitere wirtschaftliche Krisen einhandeln wird. Die kleinste Rezession würde wohl bedeuten, dass wieder ein Abwärtsspirale ausgelöst werden würde wie damals bei der Austeritätspolitik. Diese wurde 2014 klammheimlich beerdigt, nachdem sie Millionen von Arbeitskräften in die Arbeitslosigkeit gestürzt hatte und Hunderte von Milliarden Euro an nicht-erzeugten Gütern verantwortete, mit entsprechend hohen nicht-gemachten Gewinnen der Unternehmen.

Der Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) des Europäischen Parlaments sollte heute Abend auf keinen Fall die Anpassungspfade für Schuldenstandsquoten mit in die Reformen aufnehmen. Es wäre quasi die Garantie für eine weitere unnötige „Staatsschuldenkrise“ mit entsprechender Austeritätspolitik, die sowohl die Eurozone wie auch die Europäische Union in eine gewaltige Krise stürzen könnten. Im Zeitalter der Polykrisen wäre dies ein weiterer Rückschlag für europäische Ambitionen.