Die neuen Schuldenregeln der EU - besser oder schlechter?

03.01.2024

Kurz vor Weihnachten einigte sich die EU auf neue Schuldenregeln. Der neue Stabilitäts- und Wachstumspakt war ein Kompromiss, mit dem zumindest die deutsche Seite zufrieden war. Allerdings zeigt eine knappe Analyse, dass die Regeln nicht logisch konsistent sind. Die Eurozone wird wieder wackeln – es ist nur die Frage, wann es passiert.

Die Tagesschau berichtete am 20.12. 2024 über die Einigung:

„Den neuen Regeln zufolge müssen zu hoch verschuldete EU-Staaten im Schnitt jährlich ein Mindestmaß beim Abbau der Defizite und Schuldenstände einhalten. Darauf hatte vor allem Deutschland gedrängt. Insgesamt ist das Regelwerk aber weniger streng und starr als bisher. Darauf hatten Frankreich, nach Deutschland die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU, und viele südeuropäische Staaten gepocht.“

Dieser Absatz ist sehr offen für Interpretationen. Ob das Regelwerk weniger streng und starr ist, kommt auf die Details an. Und gerade der erste Satz lässt wenig Hoffnung. Ein Abbau der staatlichen Defizite ist gleichbedeutend mit einem Abbau der privaten Ersparnisse. Das gebietet die Logik der doppelten Buchführung. Für die EU bzw. Eurozone als ganzes gilt, dass bei unveränderter Handelsbilanz das staatliche Defizit der nationalen Regierungen dem privaten Überschuss der Haushalte und Unternehmen entsprechen muss, der nicht auf Nettoexporte zurückzuführen ist.

Mit anderen Worten: Unternehmen und Haushalte können sparen (Einnahmenüberschüsse erzielen), wenn sie mehr Geld für Exporte aus dem Ausland bekommen, als sie dem Ausland für Importe bezahlen. Sie können auch sparen, wenn der Staat mehr Geld ausgibt, als er über Steuern wieder einzieht. Wenn der Staat beispielsweise 1.000 Mrd. € ausgibt und 900 Mrd. € an Steuern einzieht, dann resultiert daraus ein staatliches Defizit von 100 Mrd. € und gleichzeitig auch als andere Seite der Medaille eine private Geldersparnis von 100 Mrd. €. Wenn der Staat durch Steuererhöhungen es schaffen würde, die Steuereinnahmen um 100 Mrd. € zu steigern auf 1.000 Mrd. €, dann würde gleichzeitig das staatliche Defizit auf Null fallen und auch die private Ersparnis (zumindest der Teil, der nicht durch Nettoexporte erzeugt wurde).

Ein Abbau des Geldvermögens der Haushalte und Unternehmen bedeutet, dass wir im Durchschnitt ärmer werden, da wir weniger Geld sparen. Dies bleibt normalerweise nicht ohne Auswirkungen. Wenn Haushalte weniger sparen, werden sie auch bei Immobilienkrediten die Kreditmenge entsprechend reduzieren. Somit müssten die Immobilienpreise fallen, weil sich die Käufer höhere Preise schlichtweg nicht leisten könnten. Eine lang anhaltende Flaute auf dem Immobilienmarkt wäre die Folge, was keine gute Entwicklung wäre: wir brauchen mehr Wohnungen und Häuser, nicht weniger. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen würde fallen, die Arbeitslosigkeit steigen.

Auch Unternehmen werden auf weniger Gewinne mit weniger Ausgaben reagieren oder sogar Investitionen unterlassen, um die Rückzahlung ihrer Schulden zu priorisieren. Dies führt zu weniger Beschäftigung und zu einem geringeren Produktivitätswachstum. Auch der Staat könnte durch seine Wirtschaftspolitik die Beschäftigung reduzieren und das Produktivitätswachstum verlangsamen, wenn er seine Ausgaben einschränkt, um das staatliche Defizit zu reduzieren (was übrigens nach einem Papier des IWF nicht funktioniert). Politisch tun weniger Investitionen am wenigsten weh, denn wenn der Staat weniger investiert, dann werden einige Arbeitskräfte eben keinen Arbeitsplatz finden und einige Unternehmen weniger Gewinne machen. Da diese aber nicht wissen, dass geringere Staatsausgaben ihre potentiellen Gewinne reduzieren oder Arbeitsplätze vernichten, werden sie dies nicht der Regierung anlasten.

Die genauen Veränderungen der Schuldenregeln können bei der EU nachgelesen werden. Der Teufel steckt, wie so oft, im Detail. Die neuen Regeln können flexibler sein. Sie sind individueller und es gibt genügend Argumente, die dafür sprechen, die Austeritätspolitik der 2010er Jahre mit ihren katastrophalen Auswirkungen zu vermeiden. Allerdings ist das wesentliche fiskalische Instrument, mit dem EU-Länder gegeängelt werden, unverändert:

„The Council agreed that the deficit-based excessive deficit procedure will remain unchanged.“

Die Politik der EU wird also weiterhin in der Verantwortung stehen. Sie kann die Regeln streng und strikt anwenden, oder sie kann die nationalen Regierungen an der langen Leine lassen. Letztlich hat die EU-Kommission nun mehr Macht als vorher, als die Regeln für alle gleich waren. Ob dieser Machtgewinn für die EU gerechtfertigt ist, sei dahingestellt. Nach der katastrophalen Kürzungspolitik der 2010er Jahre hat die wirtschaftspolitische Reaktion auf die Pandemie gezeigt, dass die EU dazugelernt hat. Die Schuldenregeln wurden ausgesetzt, die EZB agierte als Käufer der letzten Hand, der Anstieg der Staatsverschuldung in der Eurozone verlief völlig ohne Probleme – selbst für Griechenland, wo die „Staatsschulden“ zeitweise bei über 210 Prozent des BIP lagen (2020).

Regeln sind dazu da, um sie zu brechen, heißt es oft. Das war auch bei den Schuldenregeln der Fall. Als klar wurde, dass die Verfahren um „exzessive“ Defizite und die daraus folgenden Kürzungen der Staatsausgaben nur zu Massenarbeitslosigkeit und einem Absturz des BIP führten, wurden sie ab 2014 nicht mehr durchgesetzt. 2019 beispielsweise endeten bei 10 Defizitverfahren 9 ohne Konsequenzen für das betroffene Land. Daher ist zu vermuten, dass auch die neuen Schuldenregeln solange angewendet werden, bis klar wird, dass ihre Anwendung politisch „zu teuer“ (sie erzeugt zu viel Arbeitslosigkeit) ist.

Die Eurozone befindet sich aktuell in einer Rezession und der Chefökonom der Hamburg Commercial Bank, Dr. Cyrus de la Rubia, äußerte sich jüngst im Express über das „trostlose Bild“, welches die Wirtschaft der EU abgibt. Sollte die Wirtschaft weiter schrumpfen, auch und gerade weil die Staatsausgaben in vielen Ländern zurückgeführt werden, dann schrumpfen auch die Steuereinnahmen. Damit steigen die staatlichen Defizite und damit die Wahrscheinlichkeit, dass diese die 3 Prozent des BIP übersteigen, so dass sie als „exzessive“ Defizite eingestuft werden. Es kann also schon 2024 dazu kommen, dass die neuen Fiskalregeln der EU und insbesondere der Eurozone auf die Füße fallen. Die Idee, die Wirtschaftspolitik an fiskalischen Defiziten auszurichten statt an realen Zielvorgaben wie eine funktionierende Infrastruktur, befindet sich im Niedergang und es ist nur die Trägheit der Politik, die einen schnelleren Übergang zu einer dringend benötigten effektiven Wirtschaftsordnung verhindert.