Die kopernikanische Wende in der Wirtschaftstheorie: Dem Staat kann das Geld nicht ausgehen
Agenda Austria, ein neoliberaler Think Tank, hingegen warnt davor, "Staatsausgaben direkt über die Druckerpresse zu finanzieren". Warum dies der Normalfall ist und wir davor keine Angst haben sollten, erklärt dieser Artikel.
Nikolaus Kopernikus löste im 16. Jahrhundert mit seiner Behauptung, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht andersherum, eine Revolution in der Wissenschaft aus. Hier gerieten der Glaube an die Religion und die sich bahnbrechende empirische Wissenschaft in Konflikt, mit dem wohlbekannten Ergebnis der kopernikanischen Wende. Die von Kant als "Umänderung der Denkart" bezeichnete Entwicklung führte zu einem Aufblühen der Wissenschaft und damit in die Moderne. Eine solche "Umänderung der Denkart" hat nun mit dem Auftauchen der sog. Modern Monetary Theory (MMT) die Wirtschaftswissenschaften erfasst. Auch wenn die Konsequenzen nicht ganz so weitreichend sein werden wie die der kopernikanischen Wende, so ist doch zu vermuten, dass die neue Denkart unsere Gesellschaften stark verändern wird.
Der Staat als Schöpfer des Geldes
Die wesentliche Einsicht der MMT ist die, dass der Staat Schöpfer des Geldes ist und damit die Höhe seiner Ausgaben selbst bestimmen kann. Ein historisches Beispiel soll dies verdeutlichen. Die Kolonien in Amerika, die europäische Siedler gründeten, hatten ein zentrales Problem zu lösen. Für das Gemeinwesen wollten sie Straßen und Schulen bauen, dazu Lehrerinnen und Lehrer einstellen. Wie sollte dies bewerkstelligt werden? Die Lösung war der Aufbau einer staatlichen Institution und einer eigenen Währung. Damit die BürgerInnen diese auch akzeptierten, wurden sie von der staatlichen Institution mit einer Steuer belegt. Dies zwang sie dazu, Arbeit oder Waren anzubieten, um an die staatliche Währung zu kommen. Woher bekam die staatliche Institution das Geld? Die heutigen VWL-Lehrbücher sehen dafür drei Mechanismus vor: Steuern, Staatsanleihen und Druckerpresse.
In der Realität sah das etwas anders aus. Die neue Währung wurde vom Staat über die Druckerpresse ins Spiel gebracht. Warum? Die BürgerInnen können keine Steuern zahlen, wenn der Staat nicht vorher Geld in Umlauf gebracht und damit Einkommen erzeugt hat. Ebenso können die BürgerInnen keine Staatsanleihen kaufen, da sie kein (staatliches) Geld besitzen. Wir lernen also: Steuern und Staatsanleihenkäufe "finanzieren" den Staat nicht. Der Staat kann immer und ausschließlich über die Druckerpresse und staatliches Geld schöpfen. Dabei kann er zwar gebrauchte und aus dem Umlauf eingesammelte Geldscheine ausgeben, dies hat aber nichts mit einer "Finanzierung" zu tun. Steuern und Staatsanleihen ziehen staatliches Geld aus dem Wirtschaftskreislauf, es fließt zurück zum Staat. Dies führt zu weniger Inflation und zu der Etablierung eines Zinssatzes (auf Staatsanleihen), den der Staat kontrolliert.
Fiskalpolitik ist alternativlos
Da dem Staat das Geld nicht ausgehen kann, können staatliche Ausgaben auf gesamtwirtschaftliche Ziele ausgerichtet werden, z. B. das Ziel der Vollbeschäftigung. Dazu muss allerdings beachtet werden, dass die Regeln des Geldsystems derartige Möglichkeiten auch erlauben. Die nationalen Schuldenbremsen, der europäische Fiskalpakt und der Stabilitäts- und Wachstumspakt stehen dieser wirtschaftspolitischen Ausrichtung aktuell mehr oder weniger im Weg. Dabei handelt es sich um politische Regeln, die entsprechend umgangen oder abgeschafft werden können. Ein Alternative zu Fiskalpolitik - der Variation von staatlichen Ausgaben und Einnahmen (Steuern) - gibt es aktuell nicht. Die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem Inflationsziel scheitert seit zehn Jahren und kommt nicht auf die knapp unter zwei Prozent, die sie erreichen soll.
Wir brauchen also eine fiskalische Theorie der Stabilisierung der Wirtschaft. Der Staat soll durch seine Ausgaben die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit angehen. Die größten Probleme sind, neben dem der aktuellen Auswirkungen der Coronakrise, die Bekämpfung des Klimawandels und die Korrektur der Ungleichheit. Beide wurden durch eine Machtverschiebung von der Politik hin zu den Unternehmen erzeugt - getragen von der neoliberalen Ideologie, dass Märkte gesellschaftliche Probleme besser lösen könnten als demokratische Institutionen. Dieser Idee hat sich auch die Agenda Austria verschrieben, die gleich im ersten Satz ihres "Mission Statements" quasi als Präambel verlauten lässt: "Wir von der Agenda Austria glauben, dass Freiheit und Eigenverantwortung die wichtigsten Bausteine für eine florierende Gesellschaft sind." Wer hingegen staatliche Politik auf kommunaler, regionaler oder Bundesebene oder soziale Verantwortung und Gerechtigkeit und die sie stützenden Institutionen wie den Wohlfahrtsstaat für wichtige Bausteine hält, begibt sich auf Kollisionskurs mit den Agenda-"Forschern" und ihren "wissenschaftlich fundierten Studien".
Haltlose Behauptungen und intellektuelle Tasschenspielertricks
Die jüngste "Studie" des "Think Tanks" beschäftigt sich mit der MMT. Wer an "Freiheit und Eigenverantwortung" glaubt, wird wohl mit der Idee der Nutzung des demokratischen Staates als den wesentlichen Baustein für eine florierende Gesellschaft wenig anfangen können. Und so kommt es dann auch. Eine falsche Behauptung über die MMT reiht sich an die nächste, zitiert werden lediglich zwei Artikel von Vertretern der MMT. Das Dutzend an Büchern zum Thema prallt ebenso am "Denkpanzer" ab wie das 600-Seiten-Lehrbuch von Wray, Mitchell und Watts. Bei den zentralen fünf Behauptungen, "die im Zusammenhang vieler Diskussion rund um MMT immer wieder fallen", machen sich die AutorInnen die Arbeit einfach. Dass kein Anhänger der MMT diese "zentralen fünf Behauptungen" jemals aufgestellt oder befürwortet hätte, spielt keine Rolle mehr. Diese Art der "Auseinandersetzung" verwundert in ihrer Naivität.
Der Herausgeberkreis des Wall Street Journal titelte jüngst als Unterüberschrift, dass es so scheinen würde, als wenn wir alle "modern monetary theorists" wären. Es ist an der Zeit, dass sich die Volkswirtschaftslehre mit der MMT beschäftigt. Sollte diese empirische Theorie anerkannt werden, so müsste sie auch in die akademische Lehre Eingang finden. Zur Einordnung sei erwähnt, dass noch letztes Jahr in einer Ökonomenbefragung des IGM Forum an der University of Chicago auf den Satz "Länder, die Kredite in ihrer eigenen Währung aufnehmen, sollten sich keine Sorgen über Staatsdefizite machen, da sie immer Geld zur Finanzierung ihrer Schulden schaffen können" alle Befragten bis auf einen mit "stimme nicht zu" oder "stimme überhaupt nicht zu" antworteten. Seitdem haben die USA mehr als 3 Billionen Dollar an staatlichen Programmen aufgelegt, und schon das staatliche Defizit von 2019 lag bei einer Billion Dollar. Wir leben in einer neuen Welt und wir brauchen neue Theorien und neue Diskurse, um die Probleme zu lösen, die uns die alten Theorien eingebrockt hatten. Die Modern Monetary Theory ist ein wesentliches Puzzlestück beim Nachdenken über unser Geld und unsere Ressourcen.